Sozialwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Industrie 4.0 und Digitalisierung der Arbeit. Nach Stationen als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Stuttgart, Tübingen, Frankfurt am Main und Hohenheim ist er in der IG Metall Baden-Württemberg für die arbeitspolitische Gestaltung von Industrie 4.0 zuständig.
Herr Dr. Menez – Sie sind in der Bezirksleitung der IG Metall Baden-Württemberg für das Thema „Industrie 4.0 und Digitalisierung“ zuständig – können Sie ganz kurz Ihren Job beschreiben?
Ich bin Ansprechpartner für alle Fragen rund um Industrie 4.0. Konkret berate ich Betriebsräte von Unternehmen bei der Einführung und Begleitung von Industrie 4.0. In der Regel wird Industrie 4.0 anhand von Pilotprojekten eingeführt – wir achten darauf, dass Betriebsräte in diesen Prozess gut eingebunden werden, um auch die Interessen der Beschäftigten proaktiv zu vertreten. Dazu kommt der Qualifizierungsaspekt. Ich bin Bildungsreferent im Bildungszentrum Lohr, das heißt, ich schule Betriebsräte im Umgang mit Industrie 4.0 und nutze dafür auch Lernfabriken, zum Beispiel das Future Work Lab in Stuttgart, wo die Teilnehmer Industrie 4.0 live erleben können. Mein Arbeitsbereich umfasst auch die Schnittstelle zur Politik, wenn es um Fragen der Digitalisierung geht. Ich bin Mitglied der Arbeitsgruppe „Arbeit und Organisation“ im Rahmen der „Allianz 4.0“, einer Initiative der Landesregierung Baden-Württemberg.
Wie einschneidend ist diese Veränderung der Arbeitswelt wirklich, die auf uns zukommt? Und was davon ist Hype?
Dazu muss man vielleicht noch einmal genauer fassen, was unter Industrie 4.0 genau zu verstehen ist: Wichtig ist uns immer die Botschaft, dass Industrie 4.0 mehr als eine Technologie ist, die man kauft, einführt und die dann zum Selbstläufer wird. Es gibt im Wesentlichen vier Ebenen: Industrie 4.0 ist zunächst mal eine industriepolitische Strategie der Bundesregierung mit dem Ziel, die deutsche Industrie im globalen Wettbewerb zu stärken. Es geht darum, sich gegen die internationalen IT Konzerne zu positionieren, die die Schnittstellen besetzen und immer mehr Wertschöpfung aus den klassischen Industrien herausholen. Die zweite Dimension ist die Vision. Das ist die Smart Factory – die Fabrik, in der alle Wertschöpfungsprozesse in Echtzeit vernetzt werden. Vertikal innerhalb des Unternehmens und horizontal über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Dafür braucht man zwei Basistechnologien und das ist die dritte Dimension: zum einen die cyberphysischen Systeme (Sensoren, Aktoren und Schnittstellen), zum anderen das IoT. Die vierte Dimension sind die neuen Geschäftsmodelle und IoT-Plattformen, die eine Folge der Echtzeitvernetzung der Daten sind. Immer mehr Daten können gesammelt und genutzt und den Kunden als Service zur Verfügung gestellt werden. Es werden Plattformen entwickelt, die komplette Geschäftsprozesse abbilden, zum Beispiel Siemens Mindsphere oder AXOOM von Trumpf. Wenn man das alles weiß, dann kann man sich erst überlegen, was das für Veränderungen der Arbeitswelt bewirken kann. Im Wesentlichen sind das aber drei Aspekte: Auf der Ebene der Unternehmensorganisation lösen sich die klassischen industriellen Strukturen immer mehr auf. Im Zuge der Plattformökonomie werden die Unternehmensgrenzen immer durchlässiger. Auf der Ebene der Arbeitsorganisation haben wir zwei Trends: Im Angestelltenbereich geht es heute immer mehr in Richtung Projektarbeit oder agiler Arbeit, wie wir sagen. Schaut man in die Produktion, dann entwickeln sich neue Produktionssysteme in Richtung modularer oder hybrider Produktion. Das bedeutet eine zunehmende Flexibilität innerhalb der Produktion, hin zu mehr Kundennähe. Die dritte Ebene betrifft dann den einzelnen Arbeitsplatz. An der Mensch-Technik- Schnittstelle stellen wir fest, dass immer mehr digitale Assistenzsysteme zum Einsatz kommen. Die Beschäftigten arbeiten zum einen in der realen Welt ihrer Maschine und gleichzeitig in der virtuellen Welt des sogenannten „digitalen Zwillings“. So gesehen sind das also schon eine ganze Menge Veränderungen in der Arbeitswelt, die mit Sicherheit nicht als bloßer Hype zu betrachten sind.
Was muss man beim Moderieren dieser Veränderungen beachten? Was kann man falsch machen?
Uns geht es nicht nur um das Moderieren dieser Veränderungen, sondern um die konkrete Beteiligung der Beschäftigten in diesem Transformationsprozess. Viele Unternehmen führen Industrie 4.0 ohne klare Strategie und eher als Trial-and-Error-Prozess ein, das heißt, es findet eine Vielzahl von Pilotprojekten statt, die oftmals nicht transparent kommuniziert werden und bei denen die Beschäftigten und Betriebsräte nicht aktiv miteinbezogen sind. Unser Ansatz besteht darin, Betriebsräte möglichst früh einzubinden und sozialpartnerschaftliche Projektteams in den Unternehmen zu bilden, das heißt Vertreter der Arbeitgeberseite und aus dem Betriebsrat mit der Pilotierung zu betrauen und einen systematischen Beteiligungsprozess aufzubauen.
Wie sieht so ein systematischer Beteiligungsprozess aus?
Die IG Metall hat vor zwei Jahren ein bundesweites Projekt mit dem Namen „Arbeit und Innovation“ gestartet. Wir haben mittlerweile 110 Projektbetriebe bundesweit, in denen Betriebsräte gemeinsam mit der Geschäftsleitung ein konkretes betriebliches Projekt in Richtung Industrie 4.0 entwickeln und umsetzen. Das heißt, beide Seiten sind von Beginn an aktiv einbezogen und definieren die Rahmenbedingungen, Meilensteine und Aktivitäten für ihr betriebliches Vorhaben. Die Bandbreite an Projekten reicht von der Einführung von kollaborativen Robotern in einer Montagelinie bis hin zu Qualifizierungskonzepten für die Beschäftigten. Die IG Metall begleitet diesen Prozess mit zwei Säulen: Erstens bieten wir für alle Projektteilnehmer eine modulare Qualifizierung über den Zeitraum des Projektes an, zweitens unterstützen wir die betrieblichen Akteure im Projekt vor Ort mit Prozessberatern und Fachberatern. Ein konkretes Beispiel aus einem unserer Projektbetriebe: Ein Standort eines Technologiekonzerns soll sich innerhalb der nächsten drei Jahre zu einem digitalen Vorzeigewerk entwickeln, um den Standort und damit Beschäftigung zu sichern. Voraussetzung dafür ist die Optimierung der Montage und Fertigung, dieanschließend digitalisiert werden. Betriebsräte und Projektverantwortliche erarbeiten gemeinsam die Optimierungskonzepte, erproben sie dann unter Einbeziehung der Belegschaft, beispielsweise mit den Montagearbeitern, und werden dabei von erfahrenen Fachberatern und Prozessberatern vor Ort unterstützt.
Kann sich jeder Arbeitnehmer und jedes Unternehmen auf Industrie 4.0 einstellen – oder wird es Gewinner und Verlierer geben?
Es wird natürlich Gewinner und Verlierer geben. Ein Unternehmen, das sich nicht auf Digitalisierung einlässt, wird vermutlich langfristig von der digitalen Wertschöpfungskette abgehängt werden. Automobilzulieferer und Maschinenbauer sind natürlich besonders im Fokus – hier ist die Gefahr, abgehängt zu werden, besonders groß. Die Beschäftigten müssen qualifiziert werden. Speziell bei Un- und Angelernten besteht aber schon die Gefahr, dass hier in Zukunft weniger Arbeitsplätze benötigt werden.
Wie viel von dieser Veränderung muss/kann staatlich induziert werden – und wo muss die Eigeninitiative der Unternehmen anfangen?
Jedes Unternehmen muss seinen eigenen Weg gehen – es gibt kein Patentrezept für Industrie 4.0. Der Staat kann aber zum Beispiel Forschungsprojekte finanziell fördern – hier sind wir in Deutschland ganz gut aufgestellt. Unsere Stärke in Deutschland ist eine gut ausgebaute Mitbestimmung und eine Tarifautonomie. Das ist kein Nachteil, wie manche behaupten, sondern ein Zeichen stabiler Rahmenbedingungen, auf die sich jedes Unternehmen und auch die Beschäftigten verlassen können.
Was kann die Politik in Deutschland besser machen? Hat das auch mit Kommunikation zu tun?
Klar kann man da vieles besser machen. Ganz deutliche Schwächen haben wir im Bereich der digitalen Infrastruktur – ich denke da an das Thema Breitband- Ausbau. Auch beim Thema Cloud haben wir Nachholbedarf. Die weltweit führenden Cloud-Anbieter sind durchweg amerikanische Konzerne – das ist vor allem für die Datensicherheit ein Problem. Mit Kommunikation hat das aber nichts zu tun – man muss in diesem Fall nicht kommunizieren, sondern einfach handeln.
Welche Rolle spielt eine traditionelle Institution wie die Gewerkschaft bei alledem?
Die IG Metall hat zwar eine lange Tradition, ist aber keine Organisation, die an Dingen festhalten will, die nicht mehr in die Zeit passen. Wir sind keine Blockierer, sondern Gestalter. Für uns ist wichtig, dass wir digitale Arbeitsbedingungen mitgestalten können, sodass die Beschäftigten am Ende gute Arbeitsbedingungen vorfinden – und das wird dann automatisch auch zum Standortvorteil. Darum treiben wir politische Initiativen voran – der Transformationsrat der Landesregierung Baden-Württemberg wurde zum Beispiel auf unser Betreiben hin installiert.
Wie sieht Ihre ideale Zukunft in der deutschen Wirtschaftslandschaft in 20 Jahren aus?
Wir müssen Schritt für Schritt denken. Die zentrale Herausforderung besteht für uns darin, Wertschöpfung und ganz speziell auch Produktion in Baden-Württemberg zu halten. Das wäre schon mal so eine Art Grundvoraussetzung für eine gute Zukunft. Wenn das klappt, haben wir aus unserer Perspektive gesehen dann weiter hoch qualifizierte Facharbeiter im Land, die in guten Arbeitsbedingungen komplexe Wertschöpfung betreiben – also digitale Wertschöpfung und nicht nur automatisierte Wertschöpfung.