Die Revolution der Geschlechteridentität

Marke People Data & Tech Lifestyle
12.09.2018

*Aus: A Boy Named Sue – Johnny Cash
Jungen tragen Blau und spielen mit Autos, Mädchen tragen Rosa und spielen mit Puppen. Das ist halt so. Oder nicht? Was ist, wenn der Junge lieber Kleidchen tragen will oder das Mädchen die Barbie abblitzen lässt? Was, wenn Klaus auf einmal Claudia sein will oder aus Sandra Sandro wird? Die Gender-Revolution ist im vollen Gange und die gesellschaftliche Wahrnehmung von Geschlechterrollen und -identitäten verändert sich. Das gibt Menschen, die sich nicht mit der ihnen von Geburt an zugeschriebenen Geschlechterrolle identifizieren, den notwendigen Raum zur Selbstverwirklichung. Dennoch ist die Findung der eigenen Trans-Identität oftmals ein kräftezehrender Prozess.

Geschlecht und Gender

„Einerseits gibt es das biologisch-anatomische Geschlecht, das bei Geburt durch die primären Geschlechtsorgane definiert wird. Hier unterscheidet man zwischen männlich, weiblich und intersexuell. Andererseits gibt es auch das gesellschaftliche Geschlecht, das Gender, das die Geschlechtseigenschaften einer Person in Gesellschaft und Kultur beschreibt“, erklärt Markus Holzwarth, einer der wenigen Psychotherapeuten in Deutschland, die sich mit der Thematik der Trans-Identität beschäftigen. Während es bei den Diné, einem indianischen Volk im Südwesten der USA, vier Gender gibt, im Talmud sogar zwischen sechs Gendern unterschieden wird, hat sich in der westlichen Kultur zumeist das binäre System etabliert: Mann und Frau. Erst seit 2017 ist auch ein drittes Geschlecht gesetzlich in Deutschland anerkannt. Jedem Geschlecht ist eine gewisse Geschlechterrolle zugeteilt. Traditionell sind die Rollen von Mann und Frau an gewisse soziale und kulturelle Erwartungen geknüpft. „Der Mann galt noch bis ins 20. Jahrhundert als Oberhaupt und Ernährer von Frau und Familie, war zuständig für Kontakte nach außen, galt als stark, rational, kämpferisch. Der Frau war die Abhängigkeit vom Mann zugeschrieben sowie die Pflege der sozialen Bindungen innerhalb der Familie; sie galt als irrational, passiv und war in erster Linie die ‚Brutversorgerin‘“, so Holzwarth. Neben der sozial und kulturell mit einem Geschlecht assoziierten Geschlechterrolle gibt es auch die individuelle Gender-Identität – die Geschlechterrolle, mit der sich eine Person selbst identifiziert. Transgender-Personen sind anatomisch Mann oder Frau, identifizieren sich aber mit der Gender-Rolle des anderenn Geschlechts. „Jungen und Mädchen wachsen von Anfang an in die Gender-Rolle hinein, die die gesellschaftliche Norm vorsieht“, erläutert Holzwarth. „Das individuelle Identitätsgefühl ist aber unabhängig von Erziehung. Transgender- Personen spüren meist schon recht früh, dass sie sich in der ihnen zugedachten Rolle einfach nicht wiederfinden, wissen allerdings oft nicht, woher dieses Gefühl des Nicht-Dazugehörens kommt.“

Ein langer, schwieriger Prozess

Für viele Transgender-Personen ist der Weg hin zu ihrer Gender-Identität ein langwieriger und schwieriger Prozess. Das Thema Trans-Identität wird kaum thematisiert, die Betreffenden wissen zu Beginn des Weges manchmal nicht, dass es sich bei ihrem Nicht-Zugehörigkeitsgefühl vielleicht um Trans-Identität handelt. Häufig liegt auch zu wenig Aufklärung vor, was den Unterschied zwischen Gender-Identität und sexueller Orientierung angeht. Der US-amerikanische Gender-Aktivist und Autor beschreibt den Unterschied ganz nonchalant so: „Gender-identity is who you go to bed as. Sexual orientation is who you go to bed with.“ Auch Markus Holzwarth versucht bei unsicheren Menschen herauszufinden, worin sich ihre Gefühle begründen. „Es kann vorkommen, dass jemand als Kind homosexuelle Tendenzen hat, jedoch eine Trans-Identität vorliegt, und umgekehrt. Größtenteils kommen aber viele schon mit dem genauen Wissen um die Trans-Identität in die Praxis. Bei allen anderen muss man sich Zeit nehmen, um dies herauszufinden.“ Dabei müssen oftmals zunächst starke eigene Ängste oder Ablehnungsängste, vor allem gegenüber den Eltern, Lebenspartnern und Freunden, abgebaut werden, um zum wahren Kern durchzudringen. Die „Diagnose“ der Trans-Identität verschafft zwar Gewissheit, allerdings beginnt damit meist auch ein schwieriger Prozess für die Personen. „Die Zeit der Transformation ist für viele eine enorm schwierige. Das Coming-out ist gewöhnlich der erste Schritt und kostet sehr viel Überwindung“, so Holzwarth. Wer sich dann einer Hormonbehandlung unterzieht, braucht Geduld. Das äußere Erscheinungsbild ändert sich erst nach und nach. Dadurch sind Transgender-Personen oft unter dem permanenten Druck, sich erklären zu müssen. „Während die Reaktionen im direkten Umfeld oftmals positiv sind, gibt es in öffentlichen Situationen doch häufig schiefe Blicke oder Probleme, wenn der Ausweis verlangt wird, was sehr belastend ist“, berichtet der Therapeut. Hier unterstützt die professionelle Begleitung, indem sie Transgender-Personen zeigt, wie sie solche Situationen meistern können.

Ist Gender eine Erziehungsfrage?

In den 1950ern beschäftigte sich der US-Psychologe Dr. John Money mit den Ursachen für Gender-Identität. Er entwickelte die Theorie, dass die Gender-Identität einer Person allein von der Erziehung, nicht von der biologischen Entwicklung abhängt. In einem aufsehenerregenden Experiment riet er den Eltern des Säuglings Bruce Reimer nach einer missglückten Beschneidung, dessen Geschlechtsteile entfernen zu lassen und ihn als Mädchen, Brenda, zu erziehen. Brenda verwehrte sich jedoch der Mädchenrolle, ohne zu wissen, dass sie als Junge geboren wurde. Erst als sie im Alter von 13 Jahren mit Suizid drohte, sagten ihr ihre Eltern die Wahrheit. Brenda lebte später als David, blieb jedoch stark traumatisiert und nahm sich schließlich mit 38 Jahren das Leben. Später erforschten Neurowissenschaftler, unter anderem der Niederländer Prof. Dick Swaab, die Ursachen der Trans- Identität. Es zeigte sich, dass ein Zellcluster im Hypothalamus eine zentrale Rolle spielen könnte. Bei Männern, die sich als Mann identifizieren, ist das Cluster etwa doppelt so groß wie bei Frauen, die sich als Frau identifizieren. Swaab fand heraus, dass das Zellcluster bei Transfrauen, also anatomisch männlich geborenen Personen, die sich später als Frau identifizieren, der für Frauen typischen Größe entspricht. Auch eine genetische Prädisposition zur Trans-Identität liegt nach einer belgischen Studie von 2012 vor. Es wurde festgestellt, dass bei nicht eineiigen Zwillingen, von denen ein Geschwister Transgender ist, nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass auch das andere Transgender ist. Bei eineiigen Zwillingen hingegen liegt die Wahrscheinlichkeit bei 40 %.

Definitionen
 

„BIOLOGISCHES“ GESCHLECHT ( ENGL.: SEX)„

Biologisches“ Geschlecht meint in Abgrenzung zu Gender, dem sozialen Geschlecht, körperliche Merkmale, die darauf hinweisen, ob ein Mensch Mann, Frau, Inter* oder Sonstiges ist.

CIS-GENDER

Bezeichnung für Menschen, deren Geschlechtsidentität mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. Cis und Begriffe wie Cis-Gender wurden von der Trans*Bewegung eingeführt, um auch Begriffe zu haben, die die Norm selbst sichtbar machen.

GENDER

Bezeichnet die subjektive Gender-Identität einer Person, also ob und wie sehr sie sich männlich*, weiblich* oder als etwas anderes sieht, sowie die gesellschaftlichen Zuschreibungen und Erwartungen, die an den als männlich* oder weiblich* gelesenen/wahrgenommenen Körper gestellt werden. Merkmale und Körper werden erst in der Gesellschaft gelesen und erhalten damit eine Bedeutung. Diese Bedeutungen variieren historisch und kulturell. In dieser Broschüre werden Gender und Geschlecht synonym verwendet (siehe „biologisches“ Geschlecht).

INTER*

Menschen, deren Genitalien, Hormonproduktion oder Chromosomen nicht der medizinischen Norm von eindeutig „männlichen“ oder „weiblichen“ Körpern zugeordnet werden können. Häufig werden Inter*Personen auch als Inter*Sexuelle bezeichnet. Doch Inter* hat nichts mit dem sexuellen Begehren einer Person zu tun, also ob eine Person schwul, bi, lesbisch, asexuell, pansexuell oder hetero ist, und deshalb wird der Begriff Inter*Sexualität von vielen Inter*Personen abgelehnt.

TRANSITION

Der Prozess der Angleichung des äußeren Erscheinungsbildes an die innere Gender-Identität.

TRANS*IDENTITÄT

Der Begriff Trans*Identität wurde als Alternative zur medizinischen Diagnose „Transsexualität“ geprägt, um zu verdeutlichen, dass es für Trans*Idente nicht in erster Linie um Themen der Sexualität geht, sondern um die Frage der Identität. Dies ist wichtig zu unterscheiden, weil eine Trans*Person genau wie eine Cis-Person hetero-, homo-, bi-, pan-, multi-, asexuell usw. sein kann. Außerdem wird der Begriff „Transsexualität“ von vielen Trans*Personen abgelehnt, weil er aus dem psychiatrisch-medizinischen Bereich kommt und dort Trans*Identität immer noch als psychische Störung beschrieben wird.

TRANS*(GENDER)

Der Begriff Trans* schließt alle Menschen ein, die eine andere Gender-Identität besitzen und ausleben oder darstellen als jenes Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Das Sternchen ist ein Versuch, sämtliche Identitätsformen und Lebensweisen von Trans* zu berücksichtigen.

Andrea, unsere Kollegin von der JungPro, ist Transfrau. Sie wurde als Mann geboren und befindet sich gerade in der Transition. Sie hat mit uns über ihre persönlichen Erfahrungen gesprochen, um etwas mehr Klarheit in das komplexe Transgender-Thema zu bringen und vielleicht eine Lanze zu brechen für andere Transgender-Personen, die sich noch davor scheuen, ihre Identität öffentlich zu leben.

Wie hast du gemerkt, dass du dich nicht mit der dir zugewiesenen Gender-Rolle identifizierst?

MB

Es war so ein Gefühl von Anderssein, das ich erstmal nicht einordnen konnte. Ich war immer etwas zarter als andere Jungs, habe mich fast nie gerauft und war mehr zurückhaltend. Ich habe mich als Jugendlicher auch schon ab und an für Frauenkleider interessiert, sagte mir aber: Das ist bestimmt nur eine Phase. Dann habe ich aber zunehmend gemerkt, dass die Frauenrolle einfach besser passt.

AP

Aber du hast trotzdem viele Jahre als Mann gelebt

MB

Genau. Wenn man bemerkt, dass man Transgender ist, will man es eigentlich erstmal gar nicht wahrhaben. Man schämt sich, weil es nicht der Norm entspricht. Man will Konfrontation vermeiden. Deshalb spielt man eben die Rolle, die von einem erwartet wird. Aber das fällt einem immer schwerer. Das ist irgendwann nur noch Dauerstress.

AP

Gab es „den Moment“, wo Du Dir gesagt hast: ab jetzt werde ich mich als Frau zu erkennen geben?

MB

Den einen Schlüsselmoment gab es da nicht. Vielmehr war es ein Prozess. Ich habe die letzten paar Jahre immer mal wieder überlegt, ob ich den Schritt gehen soll, ob es überhaupt gelingen kann oder nicht. Anfang 2017 war dann eine Zeit, wo die Belastung durch das „Verstecken“ so groß wurde, dass mir bewusst wurde, jetzt muss sich was ändern. Dann war klar: Ich werde wechseln.

AP

Und wie bist du dann vorgegangen?

MB

Ich habe mir dann erstmal eine Selbsthilfegruppe gesucht, einfach weil der Kontakt und Austausch mit anderen Transgender-Personen wichtig ist. Dann bin ich an Wochenenden regelmäßig als Frau rausgegangen und habe festgestellt, das geht ganz gut. Und irgendwann bin ich zu Verabredungen im Freundeskreis auch einfach als Frau aufgetaucht. Klar waren die Leute erstmal überrascht, aber die Reaktionen waren doch durchweg positiv.

AP

Wie schwierig ist es für Dich, Deine „Rolle“ als Frau zu lernen? Ist das überhaupt Thema für Dich, oder bist Du frei von Rollendenken?

MB

Ich sage mal so: Mann und Frau sind Extreme eines breiten Spektrums. Aber ich denke durchaus binär. Ich fühle mich eindeutig als Frau. Wenn auch noch mit Schönheitsfehlern (lacht). Ich will nicht dauerhaft aussehen wie ein Mann in Frauenkleidung, wie es zurzeit noch der Fall ist. Deshalb achte ich schon sehr auf die Verhaltensweisen anderer Frauen. Da kann ich schon noch viel lernen, wie man ein stimmiges Gesamtbild abgibt.

AP

Inwiefern ist die Transition Veränderung für Dich?

MB

Klar ändert sich das äußere Erscheinungsbild. Aber ich bin nach wie vor dieselbe Person. Meine Identität ändert sich durch die Transition nicht. Vielmehr wird sie bestärkt.

AP

Wie hast Du am Arbeitsplatz kommuniziert, dass Du zukünftig Andrea genannt werden willst?

MB

Ich habe erst mit meinem Chef gesprochen, der das Thema dann an die GF von RTS weitergegeben hat. Dann gab es ein Gespräch mit allen JungPro-Kolleg* innen. Natürlich war der Puls auf 160. 180 schafft man in meinem Alter nicht mehr (lacht). Aber ich hatte mich gut darauf vorbereitet und alles lief prima. Dann habe ich noch eine Rundmail für die RTS-Belegschaft formuliert. Da bin ich lange dran gesessen und war auch supernervös, als ich Senden gedrückt habe. Aber auch darauf kamen sofort viele positive Reaktionen und ermutigende Worte.

AP

Welche alltäglichen Herausforderungen gehen mit der Transition einher?

MB

Momentan ist die größte Herausforderung sicher, sich als Frau zu positionieren, obwohl der Körper noch nicht so weit ist. Zum Beispiel die Umkleidekabine im Fitnessstudio ist noch so ein Thema. Allgemein finde ich Offenheit superwichtig. Das nimmt die Unsicherheit auf beiden Seiten. Und dann ist es natürlich ein irrsinniger Papierkrieg. Für die Namens- und Personenstandsänderung muss ein Antrag ans Amtsgericht gestellt werden, dann kommen zwei Gutachter, die eine psychologische Evaluation vornehmen, um festzustellen, ob ich wirklich eine Frau bin und es mir nicht in zwei Wochen wieder anders überlege. Irgendwann muss ich dann vor dem Richter erscheinen und dann gibt es ein rechtskräftiges Urteil. Und natürlich müssen einige Anträge an die Krankenkasse gestellt werden. Und schließlich – Geduld haben, denn es geht alles nicht so schnell, wie ich es gern hätte.

AP

Wie werden Transgender öffentlich wahrgenommen?

MB

Wie werden Transgender öffentlich wahrgenommen? Die Toleranz ist in meinem Umfeld sehr gut, und zwar bei jungen wie bei alten gleichermaßen. Ich habe ja momentan schon noch einen gewissen Exotenstatus. Das mag ich eigentlich nicht. Schön wäre es, in ein paar Jahren nichts Besonderes mehr zu sein, sondern als ganz normale Frau zu leben. Es gibt Transgender, die stehen bewusst im Rampenlicht. Dabei ist natürlich vieles überspitzt. Muss es ja auch sein, damit es plakativ ist. Die Medienpräsenz dieser Leute ist auch wichtig, um das Thema ins öffentliche Bewusstsein zu tragen. Aber die meisten Transgender sind ganz normale Leute und wollen nicht als etwas Besonderes gelten.

AP

Hast du noch einen guten Ratschlag für andere Transgender?

MB

Natürlich erscheint alles erstmal unmöglich. Aber traut euch, denn die Veränderung ist möglich – mit vielen kleinen Schritten geht es voran.

AP
Interview
Martin Brunner

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