Ein Gespräch mit Markenexperte Prof. Dr. Carsten Baumgarth über die Marke Deutschland

DR. CARSTEN BAUMGARTH

ist Professor für Markenführung an der HWR Berlin und Adjunct Professor an der Ho Chi Minh Open University in Vietnam. Er ist Mitgründer des Expertenrats Technologiemarken e. V. und des Instituts für Nachhaltigkeit. Er betreibt an der HWR Berlin das Markenforschungslabor B*lab, ist Betreiber des Instagram- Wissenschaftskanals „Brückenbau Marke“ und Co-Gastgeber des Onlineformats „KI-Garage für Marken“.

Lieber Carsten, was geht dir zum Thema Deutschland als Marke spontan durch den Kopf? Was fällt dir als erstes ein?

JD

Na ja, die erste Assoziation für mich sind die historische Wurzeln, die bekanntlich in England liegen und mit einer anderen Absicht dahinter geprägt wurden. Dann natürlich die Stärken, die zu „Made in Germany“ geführt haben. Das hat lange positiv für uns funktioniert und tut es auch heute noch
in vielen Ländern. Plus die Herausforderung, dass wir aktuell gar nicht mehr genau wissen, wofür wir stehen: Also, ob die Technologie- und Qualitätsführerschaft, die bislang mit uns assoziiert wurde, noch zählt. Oder ob jetzt Nachhaltigkeit das neue „Made in Germany“ ausmachen soll. Und weil ich zum Bei- spiel ziemlich viel international unterwegs bin und sehe, wie andere Länder mit ihren Nationenmarken umgehen, fällt auch auf, dass uns das Bewusstsein und die Professionalisierung der Markenführung für die Marke Deutschland fehlen. Das geschieht in anderen Ländern viel strategischer und der Einsatz der Nationenmarke findet dort viel bewusster und selbstbewusster statt. Und das ist eben in Deutsch- land überhaupt nicht vorhanden.

CB

Woran liegt es deiner Meinung nach, dass wir das in Deutschland nicht machen?

JD

Also ich glaube, dafür gibt es mehrere Gründe. Wir haben zum Beispiel im Vergleich mit der Schweiz alleine durch die Größe eine wesentlich größere Komplexität, also die Schweiz ist überschaubarer. Der zweite Grund: Wir haben in Deutschland eben immer noch ein Problem mit Stolz, nicht nur mit unserem Nationalstolz. Wir hinterfragen uns permanent, ob man das überhaupt darf. Wenn man aber auf die Marke intern nicht stolz ist, dann wird’s eben auch extern nichts. Das ist wie bei jeder anderen Marke auch. Und das Dritte ist, dass im Augenblick vollkommen unklar ist, wofür die Marke Deutschland steht. Wenn man das nicht hat, dann braucht man eigentlich gar nicht weiter nachzudenken. Also auch nicht über irgendwelche Regeln dazu. In der Schweiz ist klar, welche Qualität, welche Produktionsprozesse dazu berechtigen, das Label „Swiss Made“ zu führen. Dabei hat man sich stark an den Produktionsprozessen in der Schweiz orientiert, hat das alles geschützt und letztendlich sogar in Gesetze gegossen.

CB

Woran machst du fest, dass wir im Moment in Deutschland nicht mehr wissen, wofür wir stehen?

JD

Wir erleben gerade eine Erosion dessen, wofür wir bislang gestanden haben. Und was man auch bei uns erfahren und tatsächlich tagtäglich erleben kann. Wir waren das Land der Qualität, der Stabilität, der Zuverlässigkeit, in dem alles ordentlich und geregelt ist. Das passt überhaupt nicht zu dem, was wir im Augenblick beobachten. Das fällt komplett auseinander. Eine zweite starke Facette dieses Landes war die technologische Innovation. Also zum Beispiel die Anzahl der Patente, da spielten und spielen wir bislang immer in der ersten Liga, aber der Trend geht schleichend abwärts. Echte Innovationen, wirklich technologischer Art, sind jedoch teils politisch, teils aus anderen Gründen in Deutschland sozusagen nicht mehr en vogue. Technologien werden komplett verteufelt, die geben wir freiwillig auf. Andere sind zwar noch da, aber wir sind darin nicht führend. Und was schon immer eines unserer Probleme war: Wir waren technologisch führend, haben es aber nicht umgesetzt bekommen. Viele Innovationen sind hier erdacht und gemacht, aber nicht zur Marktreife und zum Markterfolg gebracht worden. Und das Dritte, was wir im Moment sehen, ist, dass alles überreguliert ist. Überregulierung bremst Innovation und Kreativität. Neues macht erst mal Angst, wird reguliert und damit ausgebremst. Bei der Künstlichen Intelligenz findet genau das auch wieder statt. Uns ist häufig gar nicht klar, was genau KI ist. Aber ein Verbotsgesetz schaffen wir.

Dementsprechend bleibt die Frage, wofür Deutschland überhaupt noch steht. Und da war ja irgendwann die Idee, auch politisch gewollt, dass Nachhaltigkeit als neuer Kern dient und gar zum zukünftigen Exportschlager und Wirtschaftsmodell werden soll. Aber erstens ist dabei die Frage, wie wichtig Nachhaltigkeit außerhalb von Deutschland ist. Und zweitens: Sind wir denn wirklich so führend im Bereich Nachhaltigkeit, wie wir es gerne immer behaupten? Ist das wirklich ein glaubwürdiges und relevantes Asset, das uns attraktiv auf den Weltmärkten macht? Wenn aber schon die inhaltliche Orientierung fehlt, dann wird’s halt schwierig mit einer professionellen Markenführung.

CB

Wie würdest du denn deine erste Frage beantworten? Glaubst du, dass Nachhaltigkeit ein neuer Markenkern von Deutschland werden könnte?

JD

Ich bin viel im Ausland unterwegs und da bekommt man häufig Kopfschütteln bezüglich unserer Vorgehensweise und unseres Umgangs mit Nachhaltigkeit. Auf der einen Seite wird international schon wahrgenommen, dass das Thema bei uns stark diskutiert wird. Es wird dann aber auch gesehen, dass wir bestimmte Technologien, die uns dabei helfen könnten, abschalten oder ignorieren. Wir sind häufig Weltmeister im Reden und in moralischen Absichtserklärungen, aber eher Zwerge im konsequenten Handeln. Wie zum Beispiel bei der Solartechnologie geschehen. Eine zentrale Technologie für die Energiewende und Deutschland war hier weltweit mal führend, aber dann wurde nicht konsequent weiter an diesem Feld gearbeitet und am Ende haben wir uns alles aus der Hand nehmen lassen. Und das passt eben überhaupt nicht zusammen: nicht nur Absichten verkünden, sondern auch technologisch umsetzen. Ich frage mich: Was haben wir denn noch? Ist es Qualität? Da muss man sich vielleicht eingestehen, dass es diese in vielen unserer Systeme nicht mehr gibt. Ist es Innovation? Ist es Nachhaltigkeit? Mir und vermutlich auch über 80 Millionen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland ist das aktuell nicht klar.

CB

Nicht nur Absichten verkünden, sondern auch technologisch umsetzen.

Was macht denn die Schweiz deiner Meinung nach in der Markenführung konkret besser?

JD

Also erstens haben die ein Gesetz dazu, das klingt natürlich wieder nach Regulierung, aber hier macht es mal Sinn. Die haben eine ganz klare Ansage für verschiedene Produktbereiche, also zum Beispiel die Uhrenindustrie oder die Lebensmittelbranche. Du darfst dein Produkt nur dann mit „Swiss Made“ kennzeichnen, wenn bestimmte Prozentsätze deiner Wertschöpfung oder bestimmte Prozess-Schritte der Fertigung im Land stattfinden. Bei Uhren ist dazu noch geregelt, dass das komplette Uhrwerk aus der Schweiz kommen muss. Das wird dann auch kontrolliert. Da gab es den interessanten Fall mit Ricola, die in der Werbung immer diesen Schweiz-Bezug thematisieren, indem sie zum Beispiel auch das Schweizerkreuz als visuellen Code verwenden. Das mussten sie irgendwann temporär aufgeben, weil zu viel des Produktes außerhalb der Schweiz gefertigt wurde. Sie durften zwar immer noch behaupten, dass sie es erfunden haben, aber über längere Zeit das Markenzeichen Schweiz nicht mehr verwenden. Das ist einfach exakt geregelt und mit klaren Konsequenzen versehen.

Neben dieser Regelungsebene gibt es in der Schweiz aber noch diesen wahnsinnigen Stolz auf alles, was schweizerisch ist. Man hat die Marke Schweiz mit bestimmten Attributen aufgeladen, für die man stehen will. Dafür steht die Schweiz jetzt in der Welt. Und das führt dazu, dass jedes Schweizer Unternehmen versucht, irgendwie die Schweizer Markensymbole drauf zukleben, wenn sie dürfen. Und das sind natürlich zwei Dinge, die bei uns glasklar fehlen. Also erstens der Stolz, das Bewusstsein, für ganz be- stimmte Dinge zu stehen, und zweitens die eindeutige Regelung, ab wann etwas als „Made in Germany“ bezeichnet werden darf. Und damit kann das eben leicht verwässert werden. Dabei hat Markenführung immer sehr viel mit Konsequenz zu tun. Also das macht die Schweiz einfach besser, weil konsequenter von innen heraus: der Stolz, das Bewusstsein und die Regelung. Die Schweizer lieben einfach ihre Schweiz.

CB

Dabei hat Markenführung immer sehr viel mit Konsequenz zu tun.

Wir haben in der Zusammenarbeit mit Schweizer Unternehmen den Begriff Swissness kennengelernt. Der bringt doch das alles auf den Punkt, oder?

JD

Genau, da gibt es ein eigenes Amt, das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum, das das gestaltet und regelt. Bei uns gibt es keine entsprechende Institution, bei uns ist es überhaupt nicht geregelt. Bei uns gibt es höchstens ein paar Gerichtsurteile dazu. Aber die sind nicht gestaltend. Wenn uns selbst nicht klar ist, was es sein und wie es gestaltet werden soll, dann wird es eben schwierig.

CB

Sprich: Das Bewusstsein darüber, wofür man steht und wie man dafür sein muss, das macht deiner Meinung nach also den wesentlichen Unterschied zur Marke Deutschland?

JD

Ja, bei uns ist es erstens inhaltlich unklar, zweitens unser Problem, stolz zu sein, und drittens die fehlende Regelung, also keine Konsequenz. Die Schweiz sorgt auch für eine hohe Wiedererkennbarkeit, indem sie klar vorschreibt, welche Landessymbole wie von den Firmen eingesetzt werden dürfen. Also nicht nur der Kern ist klar, wofür man steht, sondern auch die Art und Weise, wie man diesen Kern signalisiert und sichtbar macht, also die formale Ebene. Halten wir fest: Wir wissen nicht, wohin mit uns. Und als Marke handeln wir widersprüchlich, nicht konsequent und treten dazu inkonsistent auf. Alles grobe Fouls gegenüber jeglicher positiven Markenwirkung. Bleibt die Frage: Was tun wir? Wie entwickeln wir eine Vision? Schmieden wir einen Pakt zwischen unterschiedlichen Interessensgruppen und arbeiten gemeinsam daran? Ich halte das für extrem schwierig. Es wird ja auch schon geraume Zeit unter den hochtrabenden Begriffen Nation und Place Branding diskutiert. Also, dass man für gewisse Städte, Regionen oder Länder so etwas wie Branding oder Markenführung etabliert. Ich bin nur bedingt überzeugt davon, dass dies überhaupt funktionieren kann. Je größer die Einheit wird, desto mehr Stakeholder hast du im Boot, die dazu beitragen, mitgenommen werden und letztlich auch beeinflussen wollen. Und am Schluss kommt dann etwas raus, was alle etwas befriedigt, aber
eben auch sehr verwässert ist. Du kannst nicht top down einfach eine Positionierung entwickeln und durchsetzen, du musst eben für eine Nationenmarke möglichst viele Stakeholdergruppen mitnehmen. Ich glaube, das ist für Deutschland kaum machbar. Und: Das hat ja auch damit was zu tun, dass du, wie bei jeder guten Marke, etwas aus der eigenen Geschichte ableitest. Etwas, das schon existiert und worauf man sich implizit in seiner eigenen Kultur schon geeinigt hat. Jetzt anzufangen und völlig neue Positionierungen für so große Einheiten wie Länder zu entwickeln, halte ich für fast unmöglich. Es müsste also schon etwas sein, was innen bereits existiert und nur noch stärker herausgearbeitet, geschärft, sichtbar gemacht werden muss. Was aber nicht künstlich drauf- gesetzt wird und allen ein Mitspracherecht einräumt. Wir müssten also für uns finden, was Deutschland wirklich ausmacht, was historisch tatsächlich vorhanden und belegbar ist. Und das, was du da findest, musst du dann wie bei jeder gut geführten Marke kommunikativ nach vorne stellen und dann auch konkret erlebbar machen und erfüllen. Du musst Leuchtturmprojekte entwickeln und umsetzen, die dazu passen, die das beweisen. Wenn jetzt also das Thema Nachhaltigkeit der Kern sein soll, dann stellt sich die Frage, wo ist denn unser Leuchtturmprojekt, das dafür steht? Dass wir drei Mülltonnen im Vorgarten haben und unsere Kernkraftwerke abgeschaltet haben, reicht nicht aus. Also wenn wir etwas finden, zu dem alle Wow! sagen, das ist unser Kern, das nimmt alle mit, dann brauchen wir dazu auch ein weltweit beachtetes, alleinstellendes Projekt dazu. Würde dir zur Nachhaltigkeit dazu ein deutsches Leuchtturmprojekt einfallen? Sind wir die Erfinder und weltweit führende Nation der Solarindustrie, sind wir die Treiber der Wärmepumpen oder die Innovatoren bei E-Autos? Das sind wir alles nicht. Aber wir bräuchten auf jeden Fall einen Leuchtturm, hinter den wir uns alle scharen und mit dem wir uns alle identifizieren können.

CB

Aber Deutschland steht doch eigentlich nach wie vor für den Erfindungsreichtum und die Fähigkeiten seiner Ingenieure?

JD

Da frage ich mich: Ist das noch so? Haben wir diese Ingenieure, Erfinder und Tüftler mit diesen Fähigkeiten noch? Ich war über den Sommer für ein paar Wochen in Südkorea. Und das ist ein Land, an dem ich faszinierend finde, wie schnell sie ihre Marke aufgebaut haben. Vor 30 Jahren wurde Südkorea noch als einer der Tigerstaaten betrachtet. Also bis dato stark landwirtschaftlich geprägt mit Potenzial zu Entwicklung und Wachstum. Heute ist Südkorea eine der führenden Wirtschaftsnationen der Welt. Und zwar mit einem klaren Technologiefokus. Südkorea hat es im Prinzip innerhalb einer Generation gemeistert. Da funktioniert auch alles: Verwaltung, Neubauten, Mobilität, Digitalisierung, Kommunikation.
In Deutschland kriegen wir dagegen unsere Projekte nicht mehr realisiert, wir haben unsere Prozesse nicht mehr im Griff. Und uns fehlt der Wow-Effekt. Wenn ich mir unseren Berliner Flughafen anschaue, der ja mittlerweile tatsächlich steht und geöffnet hat, dann ist das eben ein ganz normaler, relativ langweiliger Flughafen. Die Hamburger mit ihrer Elbphilharmonie, die haben kurzfristig diesen Wow-Effekt geschafft, dieses Projekt steht für Zukunftsorientierung und hat einen echten Wow-Effekt. Also ein in Stein gemeißeltes Symbol dafür, dass man wieder mutiger, experimenteller wird. Aber wenn man das mit Südkorea vergleicht, dann haben die in den vergangenen 30 Jahren ganz andere Projekte hinbekommen. Und damit sind wir wieder beim Markenthema: Wir leben von unserem Ruf, von unserer Reputation. In vielen Ländern werden wir nach wie vor als absolut führend wahrgenommen. Aber das bröselt mehr und mehr. Ich kann das um mich herum beobachten. Ich arbeite an einer staatlichen Universität. Und die bröselt, schau dir unsere Schulen und Kitas an, es bröselt. Denk an unsere Verkehrsinfrastruktur ... fahr einfach mal Bahn. Das ist ein schleichender Prozess. Da gibt es keinen großen Knall, der eine Reputationskrise auslöst, es schleicht sich ein. Deshalb merkt das auch kaum einer. Wir fallen nicht von Platz eins auf Platz 20, sondern wir verlieren Platz um Platz. Und ein langsamer Abstieg wirkt nicht dramatisch.

CB

uns fehlt der Wow-Effekt.

Wir leben von unserem Ruf, von unserer Reputation.

Haben wir die letzten Jahre zu wenig getan? Oder ruhen wir uns gar aus?

JD

Ja, wir leben von der Substanz.

CB

Wir leben von der Substanz und leisten uns deshalb Dis- kussionen, die in anderen Ländern gar nicht aufkommen würden. Haben wir zu lange Wohlstand? Kann man das so sagen?

JD

Wohlstand ist ja auch schön, also das ist ja nichts Schlechtes. Ich finde unsere Kraft von innen, unser Antrieb, sich für etwas einzusetzen, zu kämpfen dafür, da ist etwas passiert. Ausgelöst auch durch politische Rahmenbedingungen, die es einfach schwer machen. Wenn Technologien verteufelt werden, dann wird es schwer, in diesen Bereichen noch irgendetwas zu machen. Und es gibt in unserer Bevölkerung auch nicht mehr so den Drang, etwas zu schaffen. Wir diskutieren ja eher Viertagewoche und Work-Life-Balance, anstatt zu sagen: Wir müssen jetzt mal wieder etwas tun. Und andere Länder sind da vollkommen anders unterwegs. Die asiatischen Länder sowieso. Ich besuche auch öfter Vietnam. Vor 50 Jahren fand dort ein jahrzehntelanger schrecklicher Krieg sein Ende und 2022 haben sie mit VinFast ihr erstes Auto im europäischen Markt eingeführt. Das wird also alles nicht einfacher für die Marke Deutschland auf dem Weltmarkt. Wir schwächeln und agieren orientierungslos ausgerechnet jetzt, wo alle anderen stark werden und uns in unseren Kernkompetenzen und Märkten angreifen.

CB

Was wäre deiner Meinung nach jetzt zu tun? Also die Probleme haben wir herausgearbeitet. Aber was müsste jetzt passieren?

JD

Tja, vielleicht müssten wir mal richtig abstürzen. Das wäre nicht schön, hätte aber garantiert Wirkung. Das hilft manchmal. Schau dir doch mal, das ist ja eine schöne Metapher, den Fußball an. Wir sind jetzt zweimal in der Vorrunde einer WM ausgeschieden, aber irgendwie war der Absturz noch nicht hart genug und wir fühlen uns teilweise immer noch als Spitze des Weltfußballs. Vielleicht müssten wir uns dreimal hintereinander für kein großes Turnier qualifizieren, damit wirklich etwas passiert. Das ist sicher die brutalste Lernmethode. Aber sie würde etwas bewirken. Das zweite und weitaus positivere Szenario wäre, dass wir für uns tatsächlich einen Kern finden und daraus eine tragfähige und glaubwürdige Vision entwickeln, um die sich alle kümmern, bei der alle mitarbeiten und begeistert mitmachen. Also Bundesregierung, Landesregierungen, Kommunen, Wirtschaft und Gesellschaft sind sich einig, dass das unsere Zielsetzung ist. Dass wir mit einer bestimmten Industrie, in einem Wirtschafts- oder Technologiefeld nach vorne kommen wollen. Dass wir dort auch Leuchtturmprojekte angehen und Erfolge sehen. Erfolge sind die Voraussetzung dafür, dass wir wachsen, dass wir vorankommen. Erfolg zieht dann auch wiederum an. Das ist nichts Neues. Aber das ist wirklich extrem schwierig. Und da muss man dann halt auch sagen: Deutschland ist auch ein großes, komplexes Land. Dadurch wird es eben nicht einfacher. Je kleiner die Einheiten sind, desto eher kannst du sowas hinbekommen. Des- halb sehe ich diesen zweiten Weg aktuell nicht. Ich sehe nicht, dass so etwas bei uns entstehen könnte. Südkorea hat ungefähr die halbe Bevölkerung und eigentlich gibt es dort nur Seoul. Das ist leichter um- setzbar. Bei uns mit der föderalen Struktur und den fehlenden Megacitys ist das einerseits sehr gut und sehr gesund, dass alles auf das ganze Land verteilt ist. Anderseits ist für einen Change und eine klare und gemeinsame Ausrichtung diese Kleinteiligkeit schwieriger. Aber vielleicht hat das alles ja auch mit Glück zu tun und eines Tages fällt uns ja mal was Atembraubendes ein, was die ganze Welt wieder von uns haben will. So wie das Auto. Dabei bleibt jedoch das Hauptproblem einfach existent: dass das im Moment noch überhaupt nicht erkannt wird, wie schwierig unsere Situation geworden ist. Weil es eben schleichend schlechter wird.

CB

Im Nation Brands Index hat Deutschland zwischen 2017 und 2022 sechsmal hintereinander den ersten Platz belegt. 2023 den zweiten Platz. Sprich: Wir waren in den letzten sechs Jahren die Nation mit dem besten Markenimage. Besonders hervorgehoben wird „das gute Gefühl, deutsche Produkte zu kaufen“ und die „Beschäftigungsfähigkeit der Deutschen“. Wie wirkt das auf dich?

JD

Das haben wir ja bereits gesagt: Das Bild von außen ist gar nicht so schlecht. Aber eine Marke macht sich ja immer von innen kaputt. Wir genießen in vielen Ländern noch ein hohes Ansehen für unsere Produkte, für unsere Verwaltung, für unsere Politik und Justiz. Wir zehren von diesem positiven Vorurteil. Noch. Marken bröseln immer von innen heraus, das hat zunächst mal nichts mit außen zu tun. Das ist bei jeder Marke so. Innen schafft man sich die Probleme. Anfangs ist das erst mal gar nicht so dramatisch. Aber später ist das eben wie eine Spirale, die immer schneller und enger wird. Und das führt dann irgendwann mal zu Resignation und Pessimismus. Wir sind in Deutschland zurzeit nicht mehr optimistisch, nicht mehr zukunftsorientiert unterwegs. Auch unsere Einstellung, es funktioniert doch alles nicht, bringt uns nicht voran. Und dann schaust du dir die Start-up-Szene in Deutschland an, dann fällt auf, dass die Zahl wieder zurückgegangen ist bzw. stagniert. Da wurde richtig viel Geld hineingepumpt, viele Firmen haben Inkubatoren aufgesetzt, der Staat hat unterstützt ... trotzdem ist die Luft ein wenig raus. Und gerade das hat ja viel mit Zukunftsorientierung und Aufbruch zu tun. Und viele Start-ups, die mit Zukunftstechnologien zu tun haben, gehen jetzt direkt ins Ausland. Das hat Gründe. Das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Klima ist dafür nicht geeignet. Zusätzlich findet man keine Leute, also nicht die, die man braucht. Das hat mit Ausbildung, aber auch mit Wollen zu tun, also mit der Bereitschaft, sich in eine Aufgabe zu stürzen. Und das alles ergibt dieses Bild der Spirale, die aber eben nicht das Gefühl auslöst: Hey, wir müssen uns neu erfinden und wir werden das hinbekommen.

CB

Menschen ändern sich bekanntlich dann, wenn der Schmerz so groß ist, dass sie den aktuellen Zustand nicht mehr ertragen. Das gilt dann wohl auch für Nationen. Uns geht es demnach zu gut, um Tiefgreifendes zu verändern. Richtig?

JD

Ja, zweifellos.

CB

Ich überlege, wie wir jetzt die Kurve zu einem versöhnlichen, optimistischen Abschluss hinbekommen ...

JD

(Lacht) Vielleicht müssen wir doch tatsächlich Fußball-Europameister werden. Die Wirkung von Sport, insbesondere Fußball, auf den Gemütszustand der deutschen Nation darf man nicht unterschätzen. Und ich habe ja gesagt, dass wir vielleicht einfach mal Glück brauchen. Vielleicht ist das der notwendige Impuls, aber ich schätze die Wahrscheinlichkeit, dass wir Europameister werden, als relativ gering ein. Trotzdem: Vielleicht fällt uns irgendwann etwas total Relevantes und Erfolgreiches ein. Vielleicht werden die Flugtaxen der Hype weltweit und die kommen alle aus Deutschland. Aber ich fürchte, dass wir insgesamt für solche Dinge einfach zu träge und langsam sind. Im Augenblick muss man auch sagen, dass die gesamte - sagen wir mal - Elite, egal ob Politik, Wirtschaft oder Intellektuelle, mit so vielen Tagesproblemen beschäftigt sind, dass sie über die Marke Deutschland gar nicht nachdenken. Die müssen die Krisen X, Y und Z klären. Dazu ist unser Top-Personal auch nicht gerade charismatisch und visionär unterwegs. Angefangen bei unserem Bundeskanzler. Der hat sicher seine Qualitäten, das Mitreißen von Menschen gehört bestimmt nicht dazu.

CB

Aber eine Marke macht sich ja immer von innen kaputt.

Bleibt die Frage, was wir als Nationenmarke noch haben?

JD

Wir haben letztes Jahr eine Studie durchgeführt. Da ging es darum, ob man deutschen Marken noch neue Technologiefelder zutraut. Und zwar gerade auch im Vergleich zu den großen internationalen Brands dieser Welt wie Apple, Meta, Google etc. Da ging's beispielsweise um Robotik, um selbstfahrende Autos usw. Interessant war für uns gerade der Aspekt, was man den einzelnen Marken zutraut. Und die befragten Konsumenten trauen unseren deutschen Marken eigentlich noch viel Neues zu. Das verhält sich so wie bei unserer Nation: Die deutschen Marken und die Marke Deutschland verfügen eben nach wie vor über eine hohe Reputation und ein positives Image. Aber wir müssen endlich auch liefern.

CB

Was ja eigentlich Ausdruck einer extremen Markenstärke ist.

JD

Ja, genau, das ist ja eine Diskussion, die wir schon länger in dem Expertenrat Technologiemarke führen. Oft ging es dabei auch um „Made in Germany“ und das Thema: Wir sind eigentlich technisch gut, vor allem im B2B, aber auch im B2C, kriegen es aber zu oft nicht auf die Straße. Weil wir dieses Vermarktungsgen nicht haben. Also auch hier wieder die Erkenntnis: Wir stehen wahrscheinlich für einen tiefgreifenden Change einfach noch zu gut da.

CB

Ich würde diesen Gedanken von dir, dass Marken immer von innen bröseln, gerne als Überschrift nehmen.

JD

Ja, das ist schon die Herausforderung, die wir jetzt haben, und ich habe da keine wirkliche Vorstellung, wie wir das gemeinsam bewältigen können.

CB

Das wird sofort zu Träumerei. Wir haben einfach zu viele Interessensgruppen, die wir nicht mehr unter einen Hut bekommen. Dann bräuchte es wahrscheinlich eine Politik, die sich auf Bestimmte Themen fokussiert und diese dann kompromisslos verfolgt. Aber auch da haben wir keinerlei Einigkeit. Und dann ist es am Ende wie in einem Unternehmen: Wenn die drei Geschäftsführer nicht an einem Strang ziehen, sich uneins und nicht in der Lage sind, sich auf Ziele fürs Unternehmen zu einigen, dann wirkt sich das sofort auf die Mitarbeitenden und auf den Gesamtzustand des Unternehmens aus. Und genau so geht es Deutschland im Moment.

JD

Genau. Und diese Einigung, falls es die mal gäbe, müsste dann sofort umgesetzt werden in erfolgreiche Projekte, damit dieser Auf- und Umbruch auch sicht- und spürbar wäre.

CB

Wichtig, weil die aktuelle Experience besagtes Bröseln ist. Also eigentlich ist es doch so: Die Marke Deutschland verspricht nach wie vor viel und es wird ihr auch viel zugetraut. Allerdings passt das nicht mit der Brand Experience zusammen, die Deutschland derzeit bietet. Daran müssen wir arbeiten. Kann man das so sagen?

JD

Die Menschen müssen eben in der Mehrheit wieder davon überzeugt sein, dass es gut ist, was hier in Deutschland passiert. Mal sehen, ob und wie das funktioniert.

CB

Ja, mal sehen. Lieber Carsten, vielen Dank für dieses Gespräch.

Autor
JÖRG DAMBACHER
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