Nachhaltigkeit

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30.06.2022

Wie der Nachhaltigkeitsbegriff zum nachhaltig leeren Begriff wurde.

Sucht man auf Google nach Nachhaltigkeit und sieht die Anzahl der Suchergebnisse, kündigt sich einem schon auf den ersten Blick die Dimension des Problems an: 1.740.000.000 Ergebnisse. Man könnte meinen, damit sollte sich das ­Thema Nachhaltigkeit eigentlich schon zum Positiven hin erledigt ­haben. Nüchtern betrachtet heißt es aber etwas anderes: Der Begriff Nachhaltigkeit wurde und wird so inflationär benutzt, dass er zu einem Nicht­begriff wurde. Zu einer leeren Hülse. Zu einem Feigenblatt und eigentlich zu einem Unwort. Denn was so unreflektiert, willkürlich und populistisch benutzt wird, macht sich mit der Zeit ­unglaubwürdig. Das Problem: Für Nachhaltigkeit gibt es weder ein Copyright noch Markenschutz; noch gesetzliche Vorgaben. Die Konsequenz: die inflationäre Verwendung von ­Nachhaltigkeit hat mit der Zeit zu der Entwertung eines eigentlich wertvollen ­Begriffes geführt. Die Frage ist, wie konnte es dazu kommen?

Die Lieblingsvokabel der Unternehmensverantwortlichen.

Nachhaltigkeit ist eine der beliebtesten Vokabeln von Unternehmensverantwortlichen geworden. Sie macht sich gut, wird gerne gehört und noch häufiger benutzt und hilft Unternehmen, Ministerien und ­öffentlichen Institutionen sich gut bei Kunden, Bewerbern und potenziellen Wählern zu verkaufen. Nachhaltigkeit wird von der Politik bis zur Unkenntlichkeit für fast jede Maßnahme herangezogen, egal welcher Natur diese ist. Selbst der Bau einer Autobahn wird als nachhaltige Maßnahme verkauft. Vom CEO zum Minister bis hinunter zum kleinen Referatsleiter oder PR-Manager, der Begriff Nachhaltigkeit muss inzwischen für alles herhalten, um ihnen eine Form von Legitimität und positivem Image zu geben. Schon 2010 stellte die Unternehmensberatung KPMG fest, dass 83 der 100 umsatzstärksten ­deutschen Unternehmen Informationen zur Nachhaltigkeit zur Verfügung stellen. Wie inflationär das Nachhaltigkeitsberichtswesen und das dazugehörige Beraterbusiness sich in den letzten zwölf Jahren bis heute weiterentwickelt haben, auch forciert durch gesetzliche Auflagen auf deutscher und europäischer Ebene, dürfte allen bekannt sein.

Eine Umfrage, die tief blicken lässt.

Jetzt wirft eine aktuelle Unternehmensumfrage der Personalberatung Russell Reynolds ein nicht sehr erfreuliches Licht auf die Ernsthaftigkeit der unternehmerischen Bemühungen dahinter. Die er­nüchternde Grundfeststellung dieser Umfrage lautet: Klima- und Umweltschutz ist gut fürs Image, so die Aussage vieler deutscher Manager, bleibt aber in Realität ohne Konsequenz für das Geschäftsmodell. So geben 46 Prozent der befragten deutschen Vorstände an, „dass Nachhaltigkeitsmaßnahmen aus Marketing­erwägungen getroffen werden, um als gesellschaftlich verantwortlich angesehen zu werden und sich über ein Nachhaltigkeitsimage vom Wettbewerb abzusetzen“. Gerade mal 15 Prozent der Befragten sehen im Nachhaltigkeitsengagement Wertschöpfungspotenzial für ihr Unternehmen. Um die Studie noch weiter zu zitieren: Nur jeder vierte befragte Vorstand in Deutschland bestätigt, dass sein Unter­nehmen überhaupt über eine Nachhaltigkeitsstrategie verfügt, die entsprechend kommuniziert und umgesetzt wird. Und nur jeder Dritte geht davon aus, dass sich sein Vorstandschef persönlich für Nachhaltigkeit einsetzt, heißt es in der Studie. Der überwiegende Teil der deutschen Vorstände und Führungskräfte sieht Nachhaltigkeit immer noch vorrangig als Reputationsrisiko an, das es zu managen gilt.

Wenn Nachhaltigkeit nur als Kommunikation verstanden wird, ist ihr Nutzen gleich null.

Das lässt einen erstmal staunend und irritiert zurück. Hätte man doch hinter jener Nachhaltigkeitsinformationsflut deutlich mehr Substanz und ernstes Involvement erwartet. Letztlich wird eine Wirklichkeitsblase erzeugt, ähnlich einer Immobilienblase, die nicht der Wirklichkeit entspricht. Wenn Nachhaltigkeit nur als Kommunikation verstanden wird, ist ihr Nutzen gleich null.

Die Nachhaltigkeitswörterblase zerplatzt an der Realität.

In Anbetracht der weltweit steigenden CO2-Emissionen, der nach wie vor steigenden Gewinne der fossilen Konzerne, der ebenso explodierenden Energiepreise und der schockhaften Erkenntnis, sich mit dem eigenen Energiehunger einem Despoten ausgeliefert zu haben, sollte dem letzten Vorstand und Politiker klar werden, dass es ein Weiter-so nicht mehr geben kann. Nachhaltigkeit bedeutet plötzlich auch Demokratie­erhalt und Freiheit. Mit Nachhaltigkeit inflationär und leichtfertig umzugehen, bekommt eine moralische Komponente. Die sie aufgrund des Klimawandels und der drohenden Klimakatastrophe eigentlich schon lange haben sollte.

/ Vier Nachhaltigkeitsnarrative.

 

Nachhaltigkeit – die unterschiedlichen Narrative oder was motiviert eigentlich zur Nachhaltigkeit?

Vielleicht ist es gut, an dieser Stelle grundsätzlich zu fragen, was motiviert uns eigentlich zu nachhaltigem Handeln? Welche Narrative gibt es und was zeichnet sie aus? Nach­haltigkeit als Antwort auf den Klimawandel ist wahrscheinlich das bekannteste Narrativ. Um dieses Narrativ herum spinnen sich unterschiedlichste Motivationsstränge, schauen wir mal genauer hin.

Das Ur-Narrativ: Nachhaltigkeit und der ­Klimawandel.

Nachhaltigkeit im Kontext des Klimawandels mit seinen katastrophalen Folgen ist sicher­lich das bedeutendste Narrativ und gewissermaßen das Ur-Narrativ der ­Nachhaltigkeit, denn ohne den Klimawandel gäbe es die Dringlichkeit zur Nachhaltigkeit nicht. Eigentlich sollte dann ja alles klar sein, könnte man meinen, und alle Beteiligten sollten den Ernst der Lage verstanden haben. Weit gefehlt. Denn obwohl die Drohkulisse fast stündlich wächst, bleibt es oft bei leeren Worten und oberflächlicher Kosmetik, wie wir im ersten Teil gesehen haben. Stellt sich die Frage, warum ist das so?

Die allzu schwierige Einsicht.

Eine mögliche Antwort, neben ganz banalen wie Gewinnstreben oder bequemen ­Gewohnheiten, ist, dass wir das Problem in seiner Gänze nicht erfassen können. Dieses Phänomen bezeichnet der US-amerikanische Philosoph Timothy Morton in seinem 2013 erschienenen Buch „Hyperobjects: Philosophy and Ecology After The End of the World“. Wir alle nehmen den globalen Klimawandel als etwas wahr, das uns umgibt, aber zu groß ist, um es in seiner Gesamtheit begreifen zu können. Wir sehen immer nur die Auswirkungen, die sich uns aber nicht auf den ersten Blick als ­zusammen­hängend erschließen. Seien es das Schmelzen der Gletscher, der Anstieg der Meere, in dem ­Ausmaß nie dagewesene Waldbrände in Australien, vertrocknete ­Wälder mitten in Deutschland, Weinanbau im Norden oder auch besonders anschaulich: ­Eisbären ohne Eis. Was diese Phänomene verbindet, ist ihre gemeinsame Ursache, die Wissenschaftler in Form des Klimawandels irgendwann dahinter entdeckt haben. Wir alle wissen eigentlich Bescheid, weil es uns die Wissenschaftler eindrücklich sagen.

Mittendrin und voll dabei.

Dennoch: Trotz allem Wissen dringt die Dringlichkeit und die Debatte darum, endlich etwas wirklich grundlegend ändern zu müssen, nur sehr langsam zu uns allen durch. Nun, wie schon angedeutet, der Klimawandel als Phänomen ist ein so komplexes Thema, dass er nicht nur unsere Wahrnehmung übersteigt. Das Hauptproblem ist und bleibt: Wir sind nicht nur mittendrin, wir sind gleichzeitig auch Akteure des Klimawandels. Wir haben uns an die „Katastrophenbilder“ gewöhnt, wissen darum, können ihn aber dennoch nicht greifen, auch weil wir keine Sprache dafür haben und sich „­Hyperobjekte“ nicht wirklich rational beschreiben lassen. Die Erderwärmung als ­Phänomen durchdringt uns, bestimmt uns und ist in ihrer Gänze für uns dennoch nicht greifbar. Wirkliche Einsicht und entsprechend konsequentes Handeln fällt uns deshalb schwer.

/ Das Narrativ der Verbote und der Gesetze.

 

Beispielhaft: das Einwegplastik-Verbot.

Eben weil es uns so schwerfällt, den Klimawandel als Ganzes zu begreifen, und wir es uns grundlegend bequem gemacht haben in unseren Rollen als Verbraucher, ­Kunden oder als Unternehmen, braucht es manchmal die Kraft des Verbots, um not­wendige Ver­änderungen durchzusetzen. Ein gutes Beispiel ist das Einwegplastik Verbot. So wurden ab dem 3. Juli 2021 zahlreiche Einwegplastik-Produkte in der EU verboten. Wie zum Beispiel Trinkhalme, Geschirr, Rührstäbchen und vieles mehr. 2022 folgte das Verbot von leichten Kunststofftragetaschen. So konsequent Verbote wirken, sie ­alleine reichen nicht aus, um eine grundlegende Nachhaltigkeitstransformation anzustoßen, da sie erstmal keinen Innovations- oder Motivationsimpuls beinhalten.

Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz: die soziale Dimension der Nachhaltigkeit.

Tiefgreifender als ein bloßes Verbot funktionieren Gesetze, die komplette ­Prozessketten betreffen und grundsätzliche Veränderungen und Innovationen in Unternehmen ­for­cieren. Das neue Lieferkettengesetz umfasst neben dem ökologischen Aspekt von Nachhaltigkeit auch die soziale und ökonomische Dimension des Begriffs. Nach einigem Hin und Her wird das Gesetz ab Januar 2023 in Kraft treten. Mit dem Gesetz wird die Einhaltung von Menschenrechten in Lieferketten geregelt. Zu den Kernelementen der Sorgfaltspflichten gehört die Einrichtung eines Risikomanagements in Unternehmen, um die Risiken von Menschenrechtsverletzungen und Schädigungen der Umwelt zu identi­­fizieren, zu vermeiden oder zu minimieren. Zunächst müssen sich Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten an das neue Lieferkettengesetz halten, ab dem Jahr 2024 dann Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten. Die Konsequenz: Die Unter­nehmen müssen sich ernsthaft und zeitnah Fragen stellen wie: Wie sind die Arbeitsbedingungen vor Ort? Werden die Menschenrechte eingehalten? Werden die Umweltstandards erfüllt? Bei Nichtbeachtung können Bußgelder verhängt werden. Die Hoffnung ist groß, dass dies im Endeffekt nicht bloß zu weiteren aufwändig gestalteten Berichten führt, analog den inflationären Nachhaltigkeitsberichten, sondern weltweit messbare, positive Veränderungen entlang der Lieferketten nach sich zieht.

Foto links © Og Mpango, Foto rechts © Sarah Chai

/ Das so ganz andere Narrativ: Lust auf Nachhaltigkeit.

Während Verbote und Gesetze ihre wichtige und sicher große Wirkung entfalten, hat sich unabhängig davon ein ganz anderes Nachhaltigkeitsnarrativ entwickelt: Nachhaltigkeit, die Spaß macht, die sich frei von Betroffenheit und Schuldgefühlen als positiver Lifestyle-Trend zeigt, der genussorientiert ist und auf Authentizität Wert legt. Die Bio-Läden in den Großstädten und deren Kundschaft zeugen davon, ebenso wie Urlaubsziele, die nach entsprechenden Kriterien ausgesucht werden. Repair-Cafés, Unverpackt-Läden oder auch diverse Mode- und Schuhlabel entstehen aus dieser „neuen Lust auf Nachhaltigkeit“, die nicht mehr aus einem schlechten Gewissen heraus motiviert ist oder mit Verzicht ­assoziiert wird, sondern das Gute mit dem Nützlichen vergnüglich verbindet.

/ Das Narrativ der blanken Notwendigkeit und des Faktischen.

Dieses Narrativ nimmt auf keine der oben genannten Nachhaltigkeitsbefindlichkeiten Rücksicht. Ob wir auf Nachhaltigkeit Lust haben oder nicht, ob Unternehmen eine Gesetzes-Umsetzungsfrist zu ambitioniert erscheint oder nicht oder ob wir die Konsequenzen des Klimawandels vollumfänglich erfassen können, ist dem Klimawandel vollkommen egal. Es ist das Narrativ des Faktischen, das rücksichtslos und mit jeder Form des Nachhaltigkeitsselbstbetrugs aufräumt. Fakt ist: Der CO2-Ausstoß steigt weiter, die verbleibende Zeit, um noch handeln zu können, schwindet immer mehr. Das 2-Grad-Ziel ist fast nicht mehr zu halten.

Der Wirklichkeitsschock.

Und dann ist da noch der Ukraine-Krieg, der die schicksalhafte Abhängigkeit Europas von Russland als Lieferant von fossilen Energien aufzeigt. Auch hier geht es sprichwörtlich um Leben und Tod. Und im Gegensatz zum schleichenden Klimawandel sind hier die Konsequenzen unserer fossilen Energie­abhängigkeit plakativer, schockierender und spürbarer als jemals zuvor. Wenn Christian Lindner die erneuerbaren Energien als Freiheitsenergien bezeichnet, dann ist das richtig, aber man muss noch weiter gehen: Es sind faktisch Überlebensenergien.

Die Nachhaltigkeitstransformation: Vertrauen in neue Technologien statt Verzicht.

Es gibt keine Alternative zum entschlossenen Handeln: Wir müssen die fossilen Energien schnellst­möglich hinter uns lassen. Nur haben wir gesehen, keines der bestehenden Narrative ist das allein ­seligmachende. Vielleicht braucht es von allem etwas, nur mit viel mehr Konsequenz, Leidenschaft und Innovationskraft umgesetzt. Die Automarke Tesla hat es als erste Marke geschafft, den Lifestyle-Trend Nachhaltigkeit auf Mobilität zu übertragen. Tesla-Fahrer waren First Adopters, die ihren Nachhaltigkeits- und Bewusstseinsvorsprung im öffentlichen Verkehr zur Schau stellen konnten. Sie waren mit die ersten Botschafter eines neuen Glaubens an mutige Technologien, der beides unter einen Hut bringen soll: die Befreiung von den ­Fesseln der fossilen Energie und die Ermöglichung einer menschengerechten Umwelt, ohne dass der Spaß dabei auf der Strecke bleibt. Ähnlich sieht das der Zukunftsreport 2022, herausgegeben vom Zukunftsinstitut. Hier wird der „Blue Shift“ ausgerufen. Die Zukunft steht hier nicht im Zeichen einer frommen grünen Wirtschaft des Verzichts, sondern einer systemisch-dynamischen blauen Wirtschaft. Blau steht für Vision und Hoffnung, die eng verknüpft sind mit systemischen Innovationen und Technologien, die uns helfen sollen, Öl und Kohle zu überwinden, bei gleichzeitig erhöhter Lebensqualität. Mit dem fernen Ziel einer Zivilisation, die eine neue Verbindung zur Natur und einen neuen Zugang zu den Potenzialen menschlicher Kulturen und Gemeinschaften sucht.

DIE GESAMTE MARKE MUSS AUS SICH HERAUS NACHHALTIG DENKEN, FÜHLEN, HANDELN UND WIRTSCHAFTEN.

/ Radikal nachhaltig – die Zukunftschance für Marken.

Für Marken heißt das alles, sie müssen sich in Zukunft radikal nachhaltig aufstellen, um in der neuen ­Realität relevant zu bleiben. Ein Weiter- so mit kosmetischen Eingriffen an der Oberfläche wird nicht mehr funktionieren, dafür geht es um zu viel. Dass darin auch eine fulminante Zukunftschance für ­radikal nachhaltig agierende Marken steckt, sich von nur halbherzig agierenden Marken abzusetzen, umso besser. Voraussetzung ist: Die gesamte Marke muss aus sich heraus nachhaltig denken, fühlen, handeln und wirtschaften. Die Nachhaltigkeit jedes einzelnen Produkts und sein Herstellungsprozess müssen hinterfragt, optimiert oder eventuell komplett eingestellt werden. Die Beziehung zu Dienstleistern, Kunden, Zulieferern und Partnern muss harten Kriterien ökologisch-ökonomisch-sozialer Nachhaltigkeit genügen. Dann wird das auch mit der Nachhaltigkeitskommunikation glaubwürdig funktionieren.

Autor
Kai Hafner

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