Sind Sie bereit? Wir wollen mit Ihnen gegen den Strom schwimmen. Keine Sorge, die Strömung ist zwar stark, aber uns wird nichts passieren. Wir haben eine Schwimmhilfe dabei: Unsere eigenen Gedanken.
Die sind schließlich frei. Wenn man bedenkt, dass Sie gerade den Leitartikel eines Magazins lesen, das sich ausschließlich um Customer Experience dreht, erscheint es vielleicht auf den ersten Blick gewagt, genau in diesem Leitartikel genau diesen Begriff infrage zu stellen. Wir tun es jetzt trotzdem mal: Customer Experience mag zwar weitestgehend richtig erklärt werden, wird aber selten richtig verstanden. Und demzufolge auch praktiziert. Wir behaupten: Das, was derzeit Customer Experience sein soll, ist eigentlich das, was man viel treffender mit Brand Experience beschreibt. Die umfassende Erfahrung, die mir eine Marke bietet. Vielleicht denken Sie jetzt, das sei Wortklauberei. Wir finden das nicht. Wir nehmen Begriffe sehr ernst. Und deshalb wiederholen wir uns gleich nochmal: Brand Experience heißt das Thema der Stunde. Es ist immer eine Frage der Perspektive. Nehmen Sie zum Beispiel – Achtung, noch ein Buzzword – Inbound-Marketing. Inbound-Marketing (inbound für eingehend oder ankommend) ist laut einhelliger Meinung die Marketing-Methode, die darauf basiert, von potenziellen Kunden aktiv aufgesucht und gefunden zu werden. Die Kunden kommen auf einen zu. Das sagt Wikipedia dazu. Äh ja. Was macht dann Outbound Marketing? Den Kunden im Schwitzkasten zum Vertragsabschluss zwingen?
ES ERSCHEINT VIELLEICHT GEWAGT, IM LEITARTIKEL DEN BEGRIFF CUSTOMER EXPERIENCE INFRAGE ZU STELLEN.
Diese Inbound-Idee ist derart sensationell neu, dass Vince Packard bereits 1957 ein Buch dazu veröffentlicht hat: Die geheimen Verführer. Der Untertitel: Der Griff nach dem Unterbewussten in jedermann. Das weist auf das eigentliche Thema, die Motivforschung hin.
Das Buch umfasst zwei Teile. Im ersten Teil mit der Überschrift „Der Verbraucher will überredet sein“ zeigt Packard damals (in den 1950er Jahren) neue Strategien der Werbung auf. Packard brachte als Erster das Thema Unterschwellige Werbung in die Öffentlichkeit, indem er über die von James M. Vicary, dem Inhaber der New Yorker Werbeagentur „Subliminal Projection Co.“ angeblich entwickelte Technik berichtete. Diesen Berichten zufolge sollten im Kino nicht wahrnehmbare Werbespots für Popcorn den Verkauf von Popcorn in die Höhe getrieben haben (Iss-Popcorn-trink-Cola-Studie). Die Behauptungen erwiesen sich aber bald als von Vicary erfunden. So etwas ähnliches könnte dem Inbound-/Outbound-Geschwurbel demnächst auch passieren. Trotzdem sind diese Begriffe existent. Und es gibt Angebote auf dem Markt dazu. Aber zurück zum Thema CX. Wir stellen ja immerhin zwei Behauptungen in den Raum: Erstens wird CX allgemein schon richtig erklärt. Zweitens aber selten richtig verstanden. Machen wir uns doch zunächst mal an die Erklärungen ran. Prof. Dr. Heinrich Holland, von der Hochschule Mainz, definiert CX zum Beispiel so:
Sie umfasst sämtliche individuellen Wahrnehmungen und Interaktionen des Kunden an den verschiedenen Kontaktpunkten (Touchpoints) mit einem Unternehmen. Die Customer Experience stellt ein holistisches Konstrukt dar, das mehrere Prozessphasen umschließt und als vorgelagertes Konstrukt zur Kundenbindung betrachtet wird. Zur Erklärung der Customer Experience sind sowohl ökonomische als auch verhaltenswissenschaftliche Erklärungsansätze von Bedeutung. Das schreibt der Big Data Insider, ein News-Blog der Vogel Communications Group: Die Customer Experience ist die Summe aller Erfahrungen, die ein Kunde mit einem Unternehmen oder einer Marke macht. Sie umfasst die subjektive Bewertung der Erlebnisse des Kunden an den verschiedenen Kontaktpunkten (Touchpoints) während einer Customer Journey.
Das Customer Experience Management versucht, die Kundenerlebnisse im Sinne positiver Erfahrungen zu beeinflussen. Halten wir fest: Ein Mensch macht Erfahrungen mit einer Marke. Er hat Erlebnisse mit ihr. Diese Erlebnisse können jeglicher Art sein: Anzeigen in Fachmagazinen, Online-Banner, ein Funkspot, ein Besuch auf der Homepage, die Anforderung von Unterlagen über das Unternehmen und seine Produkte, die Wirkung, die das Studium dieser Unterlagen hinterlässt, der telefonische, der Online-Kontakt zum Vertrieb, das persönliche Treffen, das Angebot, das man erhält, die Produktvorführung, die Spezifikation, die Verhandlungen, die Bestellung, die Lieferung, die Inbetriebnahme, der Service, die Wartung, jede weitere Berührung. Aus dieser Aufzählung, die sich noch lange fortsetzen lässt, gewinnt man unserer Meinung eine wesentliche Erkenntnis: Die Zielgruppe, die Interessenten, das Publikum, die Kunden gehen in jedem Unternehmen durch ganz viele, verschiedene Bereiche oder Abteilungen. Sie haben mit zahlreichen unterschiedlichen Menschen aus diesen verschiedenen Bereichen oder Abteilungen zu tun. Es ist sicherlich zulässig, hierzu Vermutungen anzustellen. Zum Beispiel: Wahrscheinlich sind die Touchpoints (Buzz!)
der Menschen mit der Marke nicht immer untereinander abgesprochen und synchronisiert. Demzufolge dürfte die Chance, nicht überall eine identisch oder zumindest ähnlich anfühlende Markenerfahrung zu machen, ziemlich hoch sein. Anders formuliert:
Speziell B2B-Unternehmen, mit ihrem nach wie vor wenig ausgeprägten Markenbewusstsein dürften sich genau in dieser Situation wiederfinden. Denn was wiederum sehr ausgeprägt in vielen B2B Unternehmen existiert, ist das Abteilungsdenken: Die Entwicklung ist für die Entwicklung zuständig, die Produktion für die Produktion, der Vertrieb fürs Verkaufen, der Kundendienst für Wartung, Service, Kundenbindung und das Marketing für die Marke. Was übrigens wohl der Klassiker schlechthin unter den Missverständnissen sein dürfte. Aus Sicht des Kunden hat er aber, unabhängig davon, ob er mit der Entwicklung, dem Vertrieb, dem Kundendienst zu tun hat, jedes Mal Kontakt zu ein- und derselben Firma. Er tut der Marke ganz sicher nicht den Gefallen und lernt, wann er es an welcher Stelle seiner Customer Journey ( next Buzz!) mit wem zu tun hat und deshalb zu akzeptieren oder zumindest zu tolerieren, dass es sich immer wieder anders anfühlt.
Er will Durchgängigkeit, Selbstähnlichkeit, Bestätigung seiner Entscheidung. Und keine Irritation. Denken Sie doch nur mal daran, wie Sie sich regelmäßig in irgendeiner Warteschleife eines großartigen, serviceorientierten Telekommunikationsunternehmens hängend fragen, warum Sie das alles mitmachen.
Ok, irgendwie macht man es dann doch mit. Aber man fühlt sich nicht gut dabei. Und man empfiehlt nicht weiter. Und dieser Markt hat sich nun mal auf die Norm geeinigt, Kunden lieber kurz und schnell neue Verträge zu verpassen als ihnen eine langfristige, durchgängige Experience zu verschaffen.
Vielmehr führt es auch dazu, dass man die Zuständigkeit für die Erfahrungen einer Abteilung zuschreibt. Oder sogar extra eine Abteilung dafür gründet: Kundenbindung. Der erste Fehler liegt hierbei im System: Ebenso wenig wie eine Marketingabteilung für die Marke zuständig sein kann funktioniert das mit der Kundenbindung und einer dafür geschaffenen Verantwortlichkeit. Der zweite Fehler liegt im Nichterkennen des Werkzeugs, das jedem Unternehmen zur Verfügung steht: Besagter eigener Marke. Im Prinzip müssen ganz viele B2B-Companies einfach nur die Denkrichtung ändern, um sich auf den richtigen Weg zu machen. Nicht von der Technik, vom Produkt, von den eigenen Abteilungen, Prozessen herdenken. Sondern aus der Marke heraus. Die Marke ist der rote Faden, der jedem Unternehmen zur Verfügung steht. Wer sind wir?
Wer wollen wir sein? Wie wollen wir durch die Menschen, die es mit uns zu tun haben, wahrgenommen und empfunden werden? Welches Gefühl, welchen Eindruck wollen wir bei diesen Leuten hinterlassen?
Fragen, die nicht nur die Abteilung Marketing beantworten sollte. Marken können im Marketing und in der Marketingkommunikation ganz viel richtig machen, was hinterher von den anderen Abteilungen, mit denen man als Kunde dann zu tun hat, wieder ganz einfach eingerissen werden kann. Also müssen sich alle im Unternehmen mit diesen Fragen beschäftigen. Sie müssen zumindest, wenn sie das Wunschbild, die Vorlage wie es sein soll, geliefert bekommen, die Antwort finden, welchen Beitrag am Touchpoint mit den Kunden sie leisten wollen und werden.
DIE MARKE IST DER ROTE FADEN, DER JEDEM UNTERNEHMEN ZUR VERFÜGUNG STEHT.
Es geht also nicht um eine Kette irgendwelcher Customer Experiences, die vielleicht auch zu einem Erfolg fürs Unternehmen führen kann. Wir wollen nicht, dass die Menschen irgendwelche Erfahrungen machen.
Wir wollen, dass die Menschen eine durchgängige Brand Experience machen. Vom ersten bis zum letzten Touchpoint. Diese Customer-Begrifflichkeit mag den Anschein erwecken, Unternehmen könnten sich, unterstützt durch künstliche Intelligenzen und digitale Technologien mehr und mehr individuell den Kundenbedürfnissen anpassen. So weit, bis jeder seine spezifische Marke hat.
Es gibt zum Beispiel mittlerweile eine nicht geringe Zahl von Shops, die ausschließlich Jogginghosen verkaufen, die aussehen sollen, wie Anzughosen. Aktiviert werden diese „Marken“ durch Cookies. Hat man sich irgendwann mal irgendwo im Netz eine Jogginghose oder etwas Ähnliches angesehen, steckt man fest in der Perfomance-Hölle. Dann springen einen diese Shops auf Facebook, Insta, Youtube bei jeder Gelegenheit an. Wie Exhibitionisten tauchen sie auf, reißen ihre Mäntel auseinander und zeigen uns ungeniert ihre Jogginghosen. „Du hast dir Jogginghosen angesehen. Du willst doch Jogginghosen. Ich habe Jogginghosen. Also komm schon.“ Aufdringlich ist das. Und ärgerlich. Auch weil man natürlich spürt, dass es hier nur um den Abschluss geht und nicht darum, dass die Marke einem wirklich gefallen will. Oder man sich darum bemüht, eine engere Bindung einzugehen.
Weitere große Werbenetzwerke werden bald sicherlich folgen. Anders gesagt, den Performance-Shops werden die Cookies weggenommen. Ein Schelm, wer Böses denkt dabei. Übrigens, die Idee der hyperpersonalisierten, sich unendlich verändernden Marke gab es schon einmal. Sie nannte sich Fraktale Marke und kam von einem Trendforscher namens Gerd Gerken. Muss so Mitte der 90er-Jahre gewesen sein. Und war damals schon eine schlechte Idee. Denn selbst, wenn die technologischen Möglichkeiten dazu genutzt würden, wirklich hyperpersonalisierte Marken zu erschaffen (und keine Vertriebsschleudern), wäre das ein großer Fehler. Es ist die ureigene Aufgabe von Marken, Orientierung zu bieten und Communities zu bilden. Wir Menschen sind soziale Wesen, wir wollen uns identifizieren, wir wollen zu etwas dazugehören, unsere Erlebnisse und Empfindungen teilen. Aber um das zu schaffen, muss eine Marke verlässlich für etwas stehen. Etwas, das nicht bei jedem Kunden neu ausgehandelt wird. Eine hyperpersonalisierte Marke, die jedem einzelnen Kunden seine individuelle Brand Experience bieten will, steht am Ende für gar nichts mehr. Und schafft sich damit vollständig ab. Einer der Megatrends, der von nahezu jedem Zukunftsforscher prophezeit wird, ist übrigens der Wandel der Marken vom Produktanbieter zum Problemlöser, vom Vertrauen der Konsumenten in die Marke als Produzent hin zum Vertrauen ins Netzwerk, das mir die Marke bietet.
Eher im Gegenteil. Das Attraktive, das Marken wirklich bieten können, ist eine gemeinsame Brand Experience mit anderen Menschen. Zum Beispiel eine ganze Nacht lang mit anderen vor dem Apple-Store zu campieren, um als “Erster” das neue iPhone in den Händen zu halten. Oder der berühmte Neuwagenduft. Das erzeugt Erinnerungen, die ewig halten. Vor allem aber erzeugt es Verbindungen. Verbindungen zwischen Menschen, die dank einer Marke unabhängig voneinander die gleichen Erfahrungen gemacht haben
ES IST DIE UREIGENE AUFGABE VON MARKEN, ORIENTIERUNG ZU BIETEN UND COMMUNITYS ZU BILDEN.
und nun etwas haben, worüber sie zusammen reden können. Und das erzeugt natürlich Zusammenhalt zwischen Menschen und Marken. Starke, emotionale Bündnisse, die ein Leben lang halten können. Bei vielen von uns löst der Geruch von Nivea Creme Erinnerungen daran aus, wie Mama uns das Gesicht eingecremt hat. Noch Jahrzehnte später sorgen der Geruch und die blaue Dose für ein Gefühl von Geborgenheit. Nicht, weil uns die Nivea-Werbung das eingebläut hat, sondern weil es unsere ganz persönliche Erfahrung mit der Marke ist. Aber eben auch eine, die wir mit vielen anderen Menschen teilen, die das im Kern genau so erlebt haben. Ich wette, wir könnten uns jetzt lange über unsere Nivea-Erfahrungen unterhalten. Vielleicht würden Sie sich erinnern, wie ihr Badezimmer damals ausgesehen hat, wo Sie jedes Mal gesessen haben, wenn Mama Sie eingecremt hat, wie blöd das war, wenn Papa übernehmen musste oder in welchem Schrank die Cremedose immer lag.
Weil er die Individualität betont, weil er den Schein erweckt, es ginge dabei um den Einsatz digitaler Technologien, mit denen jedem Menschen seine Marke gebaut, sein individuelles Markenerlebnis beschert werden könne. Weil man zum Schluss kommen könnte, es ginge jetzt um die spezielle, eventhafte Inszenierung der Marke für Erlebnisse oder den einen Menschen, der durch die Koordination von Vertrieb, Events, Kommunikation und Kontakten für Kundenbindung sorgt. Neben der Tatsache, dass die jeweilige Interpretation eines Markenerlebnisses immer noch dem Individuum obliegt und deshalb ein Unternehmen wahrscheinlich gar nicht für das sorgen kann, was der Customer als seine persönliche Lieblingsexperience empfinden wird, wird dabei eben ein wichtiger Aspekt außer Acht gelassen: Die Gemeinschaft. Marken machen ein Angebot zur Identifikation. Zu etwas dazuzugehören. Genau das sollte letztendlich das Ziel aller Brand-Experience-Bemühungen sein. Nicht irgendeine Kundenerfahrung, sondern meine Markenerfahrung, an die ich mich immer wieder gerne erinnern werde. Aber auch eine, die ich mit anderen teile, die das Gleiche erlebt haben. Am besten erzählen alle diese Erfahrungen ein- und dieselbe Geschichte. Sie bauen aufeinander auf. An jedem Touchpoint. Während der gesamten Brand Journey. Die dann logischerweise auch nicht mehr Customer Journey heißen darf.
MARKEN MACHEN EIN ANGEBOT ZUR IDENTIFIKATION UM ZU ETWAS DAZUZUGEHÖREN.