So weit, so gut. Wenn man sich dann näher damit beschäftigt, stellt man fest, dass es ganz viele Definitionen des Begriffes Insight gibt – selbst innerhalb unseres Betätigungsfeldes „Werbliche Kommunikation“. Hier soll keine endgültige Definition vorgenommen werden, im Laufe des Artikels werde ich aber einige der gängigen Definitionen vorstellen. Ich werde die verschiedenen Facetten des Insight-Begriffes beleuchten und versuchen, einen stärkeren Bezug der Theorie zu unserer täglichen Praxis herzustellen.
Im Marketing gilt, dass Menschen die Kommunikation als die beste empfinden, die verstanden hat, wie sie ticken. Dieses Verständnis gewinnt man aber nur, wenn man genau hinter die Dinge schaut. Eine erste Definition könnte also lauten, dass Insight eine Wahrheit ist, die man herausfindet, wenn man genauer nachforscht, fragt und dann in Hinsicht auf das Businessziel bzw. die Kommunikationsaufgabe interpretiert. Und von der man glaubt, dass sie innerhalb einer bestimmten Zielgruppe handlungsleitend sein kann.
Eine solche handlungsleitende Wahrheit hat man aber noch nicht gefunden, wenn man sich lediglich auf reine Daten beschränkt. Der berühmte Sponti-Spruch „Deutsche, esst mehr Scheiße – eine Million Fliegen können sich nicht irren!“ illustriert sehr schön, dass, wer die Daten hat, noch lange nicht die Einsicht hat. Denn ein wichtiger Insight bei diesem Fall ist sicher: Für die breite Masse der Bevölkerung ist das Verzehren-Müssen von Exkrementen sicher eine –wie der Planner sagen würde – „ultimate fear“. Für den Insight-Gewinnungsprozess muss man also ganz genau wissen, dass man auch wirklich die richtigen Leute (und nicht Fliegen …) angeschaut hat.
Wenn wir uns also noch weiter annähern, dann wäre ein Insight das, was wir aus erhobenen Daten über einen Markt, Menschen, ihre Verwendung von Produkten, ihre Träume und Ziele usw. herausgelesen haben und am Ende zu einer Strategie formen. TBWA-Präsident und CEO Jean-Marie Dru, Erfinder des Disruption-Ansatzes, mit dem die TBWA-Agenturen arbeiten, sagt es in „Beyond Disruption“ so: „Insights are the raw materials for disruptive visions and – as with all raw materials – better-crafted materials assembled with precision and craftmanship will yield better-quality finished goods.“ Das heißt: Je besser wir hineinschauen und hören, umso besser wird der Insight, umso ungewöhnlicher die nachher wieder veröffentlichte Kommunikation.
Ein echter Insight fragt immer nach dem Motiv hinter den reinen Fakten. Dass in einem Land x % Wähler links und x % Wähler rechts wählen, ist zum Beispiel noch kein echter Insight, aus dem sich Kommunikation ableiten lässt. Erst wenn wir – eine Untersuchung hat das gezeigt – den Insight dazu herausgefunden haben, dass Wähler rechter Parteien im Vergleich zu den Wählern anderer Parteien mehr Angst vor der Zukunft haben, können wir kommunikativ etwas damit anfangen. Gutes politisches Marketing müsste dann idealerweise mit der Lösung antreten, das Bedürfnis dieser Wählergruppe nach einer sicheren Zukunft mit der dementsprechenden Kommunikation zu bedienen.
„Wie habt ihr das bloß rausgekriegt?“ Das ist die Frage, die man nach der Entdeckung eines wirklich starken, echten Insights idealerweise zu hören bekommt. Für den amerikanischen Planner Richard Monturo von der TBWA sind Insights Wahrheiten, die sich in ganz vielen Feldern finden lassen. In Jean-Marie Drus „Beyond Disruption“ unterscheidet er zwischen Consumer-Insights, Business-Insights, Kategorien-Insights, Produkt-Insights und Marken-Insights. Dabei weist er auf den Fehler vieler Planner hin, nur bei den Konsumenten zu suchen (Dru 2002, 245 ff.). Als Beispiel für die Entdeckung eines neuen, treffenden, das Produkt nicht überbewertenden und relevanten Insighst aus dem Business heraus nennt Monturo den „We try harder“-Ansatz von Avis. Aus dem Umstand, dass Avis immer die Nummer zwei hinter Hertz war, leiteten die Strategen den schönen Insight ab, dass Menschen es dem Zweitplatzierten glauben, dass er alles versucht, um Erster zu werden, und sich darum mehr anstrengt, dem Konsumenten zu dienen. Das ist nur einmal ganz kurz um die Ecke gedacht – und dabei sehr entwaffnend und intelligent.
Auf all den oben genannten Feldern kann man also theoretisch viele schlaue Fragen stellen, um dann möglicherweise überraschende Einblicke und Einsichten zu erhalten. Dabei sollte man sich auch nicht zu sehr in den Insight verlieben, sondern ihn nur als Sprungbrett und Katalysator für überraschende Kommunikationskonzepte sehen. Monturo bringt es gut auf den Punkt: Ein guter Einsatz von Insights ist jener, der die Brücke zwischen der echten Wahrheit (dem Insight) und dem schlägt, was das (Produkt-)Angebot ausmacht, ohne dabei die Rolle des Produktes zu überbewerten oder die Entdeckung des Insights selbst in den Mittelpunkt zu stellen – im Sinne von „Hey, seht mal, was wir über euch wissen – also kauft jetzt das Produkt gefälligst!“
Es gibt viele Möglichkeiten, im Agentur- oder Unternehmensalltag zu Insights zu kommen. Dazu gehören zum Beispiel schon seit längerem Persona-Konzepte, die ganz gut dabei helfen, stärker in die Haut der Zielgruppen zu schlüpfen, als man das zum Beispiel mit reinen Big Data schafft. Persona-Ansätze sind der Versuch einer „Vermenschlichung“ der reinen empirischen Datenlage. Diese idealisierte Zielperson befähigt die Planner zu mehr Empathie, um sich besser in die unterschiedlichen Motivationen einer Zielgruppe hineinversetzen zu können.
Man fragt sich zum Beispiel, was die größte Angst (im Marketingdeutsch „ultimate fear“) dieses Personenkreises ist. Wenn ich diese kenne, habe ich einen Insight. Genauso verhält es sich aber auch mit dem Gegenteil – es ist genauso fruchtbar, zu wissen, was der Zielgruppe ultimative Freude bereitet.
Ein Marketing-Insight kann aber auch – daran erinnert uns der oben erwähnte Richard Monturo – in der Bedeutung liegen, die eine Marke oder ein Produkt für die Zielgruppe hat. Werden Marke und Produkt geliebt, oder sind sie nur ein notwendiges Übel? Ist das Produkt Gebrauchsgegenstand mit „low interest“ oder gar ein Statussymbol innerhalb der Branche? Muss man die Maschine einfach kaufen, wenn alle sehen sollen, wie sehr das eigene Unternehmen prosperiert? Was sieht die Zielgruppe im Produkt – was bedeutet es für sie?
Gehen wir noch einmal zurück zu den Menschen – in unserer Welt des B2B lohnt es sich nämlich schon, dort ganz genau hinzuschauen. Denn wir gewinnen wichtige Insights, wenn wir uns die Kriterien anschauen, nach denen bestimmte professionelle Menschengruppen beurteilt werden. Im B2B-Umfeld ist es darum sicher wichtig, sich die einzelnen Player und ihre Interessen genauer anzuschauen: Wer setzt wo seine Prioritäten? Wann bekommt ein Einkäufer von B2B-Produkten Ärger – wann steht er gut da? Was ist die größte Angst eines Technik-Geschäftsführers? Wie teilen all diese Menschen die Welt ein, oder – wie wir Werber sagen – was für Frames haben sie? Wer bekommt Ärger, wenn bestimmte Dinge im Unternehmen nicht funktionieren? Wessen Interessen muss man eventuell zusammenbringen? Wer will von wem im Unternehmen Anerkennung? Wer fühlt sich immer zurückgesetzt und warum? All das sind Ansatzpunkte für Fragen, deren Beantwortung Insights generiert. Wichtig ist also: Auch in der B2B-Welt herrscht nicht der reine Homo oeconomicus, der nur nach Preis und Leistung entscheidet. Gleichzeitig haben wir hier auch eine
im Vergleich zum B2C-Bereich weitaus schlechtere Versorgung mit Daten. Darum lohnt es sich auch hier, tiefer zu graben, zum Beispiel durch den Einsatz der oben genannten Persona-Konzepte, aber auch durch qualitative Gespräche mit den Kunden, den Kunden der Kunden oder ganz einfach, indem man Wirtschaftsnachrichten liest und es versteht, sie zu einem Insight für die Zielgruppe zu verdichten.
Es gibt meines Erachtens eine Skala, auf der sich Insights von „universell“ bis „mikro“ bewegen. Zu den universellen Insights, die alle Menschen betreffen, gehört sicher die Tatsache, dass wir alle – ausgenommen Selbstmordattentäter mit starkem Paradiesglauben – Angst vor dem Tod haben. Damit lässt sich kommunikativ auch etwas anfangen, zum Beispiel indem man mit schockierenden Bildern von Raucherbeinen Angst vor dem Sterben macht. Ob’s hilft, das fragen sich allerdings viele. Wie wär’s
da zum Beispiel mit einem anderen Insight? Menschen sparen gerne Geld. So könnte man auf Zigarettenpackungen eine Kampagne fahren, die glückliche Menschen vor ihren Reihenhäusern oder Sportcabrios zeigt, die sie sich mit den circa 120 € pro Monat (weiß gar nicht mehr, was eine Schachtel Zigaretten kostet …),
die sie gespart haben, kaufen konnten. Wäre ja mal einen A/B-Test wert.
Look at advertising from any era and you get a unique insight into society at that time: its loves, fears, wants and needs.
Ziemlich universell ist auch der Insight, dass fast jeder Mensch geliebt oder doch zumindest anerkannt und akzeptiert werden will. Es gab darum immer wieder erfolgreiche Kommunikationsstrategien, die einer Zielgruppe die Anerkennung geben, die sie sich bisher vergeblich gewünscht hat. Handwerker aufwerten ist zurzeit sehr im Insight-Trend. Menschen partizipieren auch gerne, sie werden gerne gefragt und machen mit, wenn sie dabei selbst gestalten können. Ein wichtiger universeller Insight, ohne den wir den Aufstieg von Social Media so nicht erlebt hätten. Genauso verhält es sich mit der Neugier – fast jeder Mensch will wissen, wie Geschichten weitergehen, und wird gerne überrascht. Das ist eine der Grundlagen für das moderne Storytelling und dafür, dass es spannender ist, dem Publikum nichts Vorhersagbares zu servieren und unerwartete Wendungen einzubauen.
Man sollte jedenfalls immer prüfen, ob die Insights nicht schon von vielen anderen zuvor als Sprungbrett für Kommunikationsideen benutzt wurden: „Männer trinken gerne Bier mit ihren Freunden.“ Dieser nicht ganz so originelle universelle Insight führte zu unzähligen Werbefilmen, die lachende Männer mit ihren Freunden beim Biertrinken zeigen. Insights wie „Männer und Frauen sind unterschiedlich“ oder „Maschinen-Einkäufer achten auf Qualität“ besitzen eine ähnliche Qualität. Bei der Annahme universeller Insights oder Pseudo-Insights läuft man Gefahr, in kommunikative Klischees abzudriften.
Am extrem anderen Ende der Skala universell–speziell befindet sich der „Gilt nur für Entscheider Max Mustermann“-Insight. Findet man einen speziellen Insight mit Losgröße 1, dann stößt man von der Wirkung her natürlich in andere Dimensionen vor. „Er mag kein Orange“ könnte dazu führen, dass Max Mustermann zum Beispiel nie KUKA-Roboter kaufen würde. Würden wir ihn kennen, wäre das ungewöhnlich – aber warum nicht? Diesen Insight zu kennen, wäre jedenfalls viel mehr wert als der, dass dieser Mann gerne Bier mit seinen Freunden trinkt. Zwischen diesen beiden extremen Polen gibt es größere Gruppen, in denen homogene Insights angenommen werden können: Shareholder streben nach Profit, am liebsten nachhaltig erwirtschaftet. Vertriebsmitarbeiter in der Maschinenbaubranche sehen gerne ihr Produkt.
In der Einleitung zu seinem berühmten und brillanten Buch „Hegarty on advertising“ führt Hegarty den Fall Axe-Deos an. An diesem Beispiel kann man sehr schön sehen, was passiert, wenn man beim Suchen nach Insights immer tiefer gräbt. Die Deomarke begann sich nämlich damals auf männliche Teenager zu konzentrieren, die dabei sind, zu Männern heranzureifen. Dabei haben sie mit allerhand Nebenwirkungen zu kämpfen, ihre Schweißdrüsen produzieren zu viel, die Jungs stinken. Gleichzeitig wirkt Testosteron und die Buben möchten gerne Mädchen daten. Vor diesen Dates haben sie aber Angst, weil sie sich unsicher fühlen. Der echte Insight, der daraus entsteht, ist: Sie suchen Vertrauen in ihren Körper. Und darauf baute Axe dann seine Strategie auf: „Wir besitzen den geheimen Effekt, mit dem du vor Dates das Vertrauen in deinen Körper zurückgewinnst.“ Das ist natürlich deutlich stärker, als nur ein Schweißverhinderer zu sein. Das alles mit dem nötigen Humor und dem nötigen Augenzwinkern – denn alle wissen, dass das Einsprühen mit Axe keinen George Clooney aus einem macht. Man sollte es immer als eine Herausforderung und Pflicht begreifen, durch solche „laddering“ genannten Fragetechniken aus der Psychologie mehr herauszukriegen als die üblichen Klischees. Mit dieser Methode entdeckt man Schritt für Schritt den Zusammenhang zwischen den von Konsumenten geschätzten Produkteigenschaften und den zugrunde liegenden Motivationen. Gerade auch in der B2B-Welt lassen sich so deutlich profundere Insights entdecken, mit deren Hilfe sich noch differenziertere und spannendere Positionierungen und Versprechen generieren lassen.
Briefings sind der Versuch, Struktur in einen Prozess hineinzubringen, der eigentlich nach dem Unerwarteten sucht. Das Unerwartete ist dabei die intelligente Kommunikationsidee, die überrascht. Und intelligent wird sie meistens dadurch, dass sie einen richtig guten Insight zugrunde legt. Sitzt man also bei einem Kunden, dann ist es eiserne Werberpflicht, zu fragen: „Was ist eigentlich Ihr Problem?“ Und wenn im Briefing dazu etwas gesagt wird, das einem aber komisch vorkommt, dann sollte man sich trauen, nachzuhaken: „Was ist eigentlich Ihr wirkliches Problem?“ Viele Kunden sind dann gerne bereit, mehr zu erzählen. Idealerweise finden das Unternehmens-Marketing und die Agentur gemeinsam noch mehr heraus. Dafür muss man auf Augenhöhe agieren – das klappt aber häufig sehr gut. Kreative stellen oft andere Fragen als die Account-Leute, darum kann es zur Insight-Findung fruchtbar sein, sie zum Kunden mitzunehmen. Es ist von unschätzbarem Wert, das Briefing selbst entgegennehmen zu können. Persönlich sprechen ist auf jeden Fall immer besser, als ein Stück Papier zu erhalten. Dabei darf man dann immer wieder das Axe-Beispiel im Geiste mit sich führen. Denn die technische Funktion eines Produktes lässt sich – sogar im B2B-Genre – oft leicht verstehen. Aber was ist sein wahrer Zweck, seine tiefere Bestimmung?
Für Pitches ist das alles noch viel wichtiger. Auch hier gilt: so viel Gespräch wie möglich suchen, ohne zu nerven. Denn es gibt nichts Schlimmeres, als wenn eine konkurrierende Agentur den entscheidenden Killer-Insight gefunden hat. Um es abschließend noch einmal mit John Hegarty zu sagen: „Then you’re dead.“