Rituale, Routine und Co.: Höchste Zeit für Veränderung

Marke People Data & Tech Lifestyle
11.09.2018

Veränderung/ Aufwendig! Unberechenbar! Alarm!
Veränderung geht dem Hirn voll gegen den Strich.

Egal ob der morgendliche Gang ins Bad, das Stürmen zur Kaffeemaschine, sobald man im Büro ankommt, oder (hoffentlich) das Händewaschen, nachdem man auf dem Klo war: Gewohnheiten sind eine ganz praktische Lösung unseres Gehirns, uns das Leben zu erleichtern. Müssten wir jede Handlung in unserem Alltag bedenken, würde dieser ziemlich lang und ziemlich anstrengend werden. Gewohnheiten und Routinen nehmen uns die einfachen Aufgaben ab, sodass sich unser Hirn auf die großen Denkprozesse konzentrieren kann. Einmal gelernt, begleiten sie uns teilweise unser ganzes Leben. Die Großhirnrinde, die verantwortlich für kluge Gedanken ist, ist extrem ressourcenverschlingend. Um uns nicht die ganze Kraft schon am Morgen zu rauben, versucht unser Denkorgan deshalb, all unser Tun möglichst schnell in Routinehandlungen umzuwandeln. Denn für Gewohnheiten und somit auch für den Großteil unseres alltäglichen Handelns sind die extrem energiesparenden Basalganglien in unserem Gehirn verantwortlich. Routinen sind auch im Sport und bei der Arbeit extrem hilfreich, da gelernte und immer wieder durchgeführte Handlungen wie von selbst und quasi instinktiv erfolgen und so – treibt man es auf die Spitze – sogar überlebenswichtig für uns sein können. Allerdings nur, wenn sie auch mit unseren Zielen übereinstimmen. Und damit kommen wir zum schwierigen Teil: Gewohnheiten und Rituale können genauso gut störend, zeitraubend oder sogar schädlich sein. Das Problem: Unser Gehirn kann zwischen gut und böse nicht unterscheiden. So leicht Gewohnheiten entstehen, umso schwerer ist es, sie zu verändern oder loszuwerden. Aber genau dann, wenn aus harmlosen Gewohnheiten eine schädliche Sucht wird oder werden könnte, ist Veränderung dringend nötig. Die Großhirnrinde, die verantwortlich für kluge Gedanken ist, ist extrem ressourcenverschlingend.

Die ticken doch nicht richtig

Rituale sind besonders im Sport sehr beliebt. Auch sie werden gelernt und laufen irgendwann wie von selbst ab. Anders als Routinen sind Rituale oft mit Aberglaube verknüpft. Wer schon einmal ein Fußballspiel angeschaut hat, wird sicher den einen oder anderen Sportler dabei beobachtet haben, wie er sich bekreuzigt, bevor er das Spielfeld betritt. Das ist jedoch relativ harmlos. Solche kleinen Rituale können durchaus hilfreich sein: In Studien wurde belegt, dass sie den Spielern und Trainern Sicherheit geben und sich positiv auf ihre Leistung auswirken können. Das Problem allerdings ist, dass sich die Leistung verschlechtern kann, sollte das Ritual mal nicht durchgeführt werden können. Doch dazu lassen es die Sportler meistens nicht kommen: Kolo Touré – Nationalspieler der Elfenbeinküste – hat die Angewohnheit, immer – und zwar wirklich immer – als letzter Spieler seiner Mannschaft den Platz zu betreten. In der Saison 2008/2009 spielte er für den FC Arsenal. Als sich bei einem Champions-League-Spiel gegen AS Rom sein Mitspieler William Gallas kurz vor der Halbzeit verletzte und in der Halbzeitpause noch behandelt wurde, ging er sogar so weit, seine Mannschaft die ersten Minuten der zweiten Hälfte zu neunt spielen zu lassen, bis er nach dem Verletzten und somit als Letzter den Rasen betreten konnte. Anders als Routinen sind Rituale oft mit Aberglaube verknüpft.

Aus kleinen Süchten werden große

Selbst mit schlechten Gewohnheiten lässt es sich gut leben. Man hat halt „seine Macken“. Kritisch wird es allerdings, wenn Gewohnheiten in Sucht umschlagen. Um diesen Vorgang nachzuvollziehen, muss man wissen, wie eine Gewohnheit in unserem Gehirn funktioniert – zumindest grob. Im Grunde sind die oben erwähnten Basalganglien wie eine Art Türsteher: Es gibt den „du kommst rein“- und den „du nicht“- Pfad. Wenn unser Kortex also eine Handlung plant, durchläuft sie die zwei Pforten der Basalganglien, um am Ende wieder den Kortex zu erreichen. Gewinnt der „du kommst rein“-Pfad (auch „direkter Pfad“), wird die Handlung durchgeführt. Siegt der „du nicht“-Pfad (auch „indirekter Pfad“), dann nicht. Fühlt sich die Handlung oder das Ergebnis der Handlung gut an, hinterlässt diese „Belohnung“ Spuren in den Basalganglien. Kommt es anschließend wieder zu dieser Handlungsabsicht, winkt der Türsteher direkt durch, das spart Energie und lässt uns sozusagen im Autopiloten handeln. So viel zur Gewohnheit. Aber wie kommt es zur Sucht? Erfahren wir eine unerwartete Belohnung, setzt das Belohnungssystem Dopamin (Glücksgefühle) frei. Unter anderem auch in einem Teil der Basalganglien namens Nucleus accumbens. Der erhöhte Dopamin-Pegel hemmt den indirekten Pfad und winkt eine Handlung über den direkten Pfad durch. Dieses Dopamin-Signal beeinflusst also, ob eine Handlung durchgeführt wird oder nicht und ob sie wiederholt wird oder nicht. Im Normalfall gewöhnt man sich an eine Belohnung und das Dopamin-Signal erlischt. Dann bleibt die Handlung eine Gewohnheit und wird nicht zur Sucht. Bei süchtig machenden Drogen beispielsweise ist es allerdings so, dass dieses Belohnungssignal künstlich erzeugt wird, und zwar bei jedem Zug, Schniefen, Schluck oder Schuss, obwohl keine wirkliche Belohnung stattfindet. In der Hoffnung auf Belohnung wird dann diese Handlung wiederholt und wiederholt und wiederholt – fertig ist die Sucht. Deshalb lässt man am besten von vornherein die Finger von suchtgefährlichen Handlungen. Denn Gewohnheiten oder Süchte sind schneller gelernt, als einem lieb ist.
Dieses Dopamin-Signal beeinflusst also, ob eine Handlung durchgeführt wird oder nicht und ob sie wiederholt wird oder nicht.

In der Gewohnheit gefangen

Gewohnheiten können unsere Wahrnehmung einschränken und uns in starre Handlungsmuster zwingen. Was passiert, wenn sich Routinen zu einem schier unüberwindbaren Hindernis entwickeln, konnte man im Dschungelcamp 2017 an der Teilnehmerin Hanka Rackwitz beobachten. Sie leidet seit über 25 Jahren an Kontaminationsangst und einem Kontrollzwang. Dass diese beiden Krankheiten zusammen auftreten, ist nicht selten. Ein Zwang entsteht oft schleichend, indem aus einer Gewohnheit erst ein Ritual und dann eine Zwangsstörung wird. Oftmals liegt ihm ein einschneidendes Erlebnis zugrunde, das im Laufe einer Therapie aufgearbeitet werden muss. Die Krankheit macht ein normales Leben unvorstellbar. Hanka Rackwitz beispielsweise wäscht sich ihre Hände so lange und so oft, bis sie schmerzen. Erst dann hat sie das Gefühl, dass sie sauber sind. Wenn sie verreist, steht sie bis zu 45 Minuten vor ihrem Herd, da sie ihr Kontrollritual so oft wiederholen muss, bis sie dabei nicht mehr blinzelt und es ohne Störung durchgeführt hat. Den Wasserhahn dreht sie jedes Mal so fest zu, bis ihre Hand schmerzt. Und das sind nur ein paar der Zwänge. Denn es entwickeln sich immer neue, die noch dazukommen. So verbrachte sie zum Beispiel am Tag zwischen vier und acht Stunden damit, allen Zwängen nachzukommen. Erst nach einer langjährigen Therapie ist sie überhaupt wieder in der Lage, über ihre Handlungen selbst zu bestimmen.

Veränderung, aber wie?

Für alle Gewohnheiten, auch für die unangenehmen, gibt es Auslösereize oder -kontexte, die dazu führen, dass wir uns wie gewohnt verhalten. Um Handlungen zu verändern, ist es also nötig, diese Reize oder Kontexte aus dem Weg zu räumen. Dabei muss man unterscheiden: Reize – dazu gehört zum Beispiel der Kaffee am Morgen, der einen zur Zigarette zwingt – sind leichter zu vermeiden. Auslösekontexte sind da schwieriger. Dabei handelt es sich um Dinge wie bestimmte Tageszeiten, die sich nicht ändern lassen, Freundeskreise und Umfelder, die man nicht wechseln will. Will man das trotzdem schaffen, kann man diese Auslöser neu programmieren, indem man sie sich bewusst macht und ihnen neue, positive Handlungen zuschreibt. Dabei ist es wichtig, sich kleine Ziele zu setzen und anstehende Belohnungen zu variieren, um nicht in die nächste Gewohnheit zu verfallen. Ist man aber bereits süchtig geworden oder hat eine Zwangsneurose, ist das etwas anderes: Hier reicht oftmals der eigene Wille nicht aus. Hier sind Menschen gefragt, die einem helfen. Klar ist aber: Die Einsicht, dass man Hilfe benötigt, muss einem selbst kommen. Sich zu verändern, ist immer schwer und erfordert oft einschneidende Erlebnisse wie Krankheit, Jobverlust oder Ehebruch. Erst dann fangen wir an, unsere Handlungen zu hinterfragen und nach Informationen zu suchen, die neue Wege eröffnen. In diesen „teachable moments“ ist Veränderung am besten möglich. Das Schwierigste dabei bleibt aber, zu erkennen, wann dieser Moment gekommen ist. Um seine Handlungen zu verändern, ist es also nötig, auch diese Reize oder Kontexte aus dem Weg zu räumen.

Autor
Matteo Rinaldi

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