Bei vielen Herausforderungen gibt es auch viele Möglichkeiten

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Marke People Data & Tech Lifestyle
02.05.2024

Ein Gespräch mit Peter Wippermann über die Vier-Tage-Woche, Home-Office, deutsche Scheindebatten, englische Pilotprojekte, japanische Eisenbahnen, Besitzstanddenken, Employer Branding, Trendforschung und worauf es jetzt für die Marke Deutschland wirklich ankommt. 

Peter Wippermann

Peter Wippermann ist Trendforscher. Und zwar nicht irgendeiner. Nach Stationen als Art Director beim Rowohlt Verlag und beim ZEITmagazin gründete er 1988 das Büro Hamburg der Gesellschaft für Kommunikationsdesign. Ab 1990 gab er das Zukunftsmagazin „Übermorgen“ von Philip Morris heraus, 1992 gründete er gemeinsam mit Matthias Horx das Trendbüro Hamburg, ein Beratungsunternehmen für gesellschaftlichen Wandel. Von 1993 bis 2015 war er dazu Professor für Editorial Design im Studiengang Kommunikationsdesign an der Folkwang Universität Essen. Außerdem ist er ein unglaublich sympathischer, angenehmer und immer wieder inspirierender Gesprächspartner für alles, was unsere Gesellschaft heute bewegt und morgen bewegen sollte. 

Wie kam es zu diesem Gespräch? Vor ein paar Wochen bin ich in LinkedIn auf eine Aussage von Christian Lindner gestoßen, die ich geteilt habe: „Deutschland braucht keine Diskussion über die Vier-Tage-Woche. Denn es gibt weltweit und historisch keine Gesellschaft, die ihren Wohlstand dadurch erhalten hat, dass sie weniger arbeitet.“ Kurze Zeit später erhielt ich Post von Peter Wippermann, der mich darauf hinwies, dass Statista doch einige anderslautende Fakten zur Entwicklung der Arbeitszeit in Deutschland bereithielte. Und ich diese Aussage doch noch einmal unter diesem Licht betrachten solle. Sprich: Da bot sich doch die Chance, auf eine interessante Unterhaltung zu einem spannenden Thema. Und diese Chance haben wir beide dann ergriffen.

Herr Professor Wippermann, wie hat sich denn die Arbeitszeit in Deutschland im Laufe der Geschichte laut Statista entwickelt?

JD

Ja, zunächst ist tatsächlich interessant, dass Arbeitszeiten und die Art der Arbeit sich natürlich ständig verändern. Nach dem Krieg wurden 70 Stunden die Woche gearbeitet. In meiner Jugend gab es die Kampagne des DGB „Samstags gehört Vati mir“. Da war der Samstag noch ein normaler Arbeitstag. 1990 hat man um die 40 Stunden gearbeitet und arbeitet heute um die 34 Stunden im Schnitt. Der Trend ist also eindeutig rückläufig.

Das ist aber, glaube ich, nicht das Entscheidende. Vielmehr geht es darum, was sich in der Arbeitswelt über die Arbeitszeit hinaus verändert. Durch Corona ist das Arbeiten zumindest für viele in das eigene Zuhause verlagert worden. Damit einher geht eine Dynamisierung, die tatsächlich viel spannender als die reine Betrachtung der Zeit ist. Also Antworten auf die Frage: Wie arbeiten wir eigentlich? Aktuell haben wir eine Stimmung in Deutschland, dass zwei bis drei Tage im Büro und der Rest der Zeit zuhause mit Arbeit verbracht werden sollten. Was bedeutet das? Schließlich wird dann auch wesentlich weniger kontrolliert. Und wenn wir dazu noch nehmen, dass die Arbeit selbst sich stark verändert, zum Beispiel durch Künstliche Intelligenz, dann wissen wir, dass ein Mehr vom alten Verständnis der Arbeitszeit nicht helfen wird, um mehr Effektivität zu erzielen. Der Maßstab wird nicht mehr der Zeitaufwand sein, sondern vielmehr was und wie wir arbeiten.

PW

Ganz ehrlich habe ich das Zitat auch deshalb geteilt, weil mich der Kontext stört, in dem dieses Thema oft diskutiert wird. Also: Wir arbeiten jetzt einfach vier statt fünf Tage in der Woche, ansonsten ändert sich nichts. Bezahlung, Organisation und Art der Arbeit bleiben gleich.

Ich glaube in Wirklichkeit fest daran, dass man die Rahmenbedingungen für eine funktionierende Vier-Tage-Woche schaffen kann. Natürlich abhängig von der Art des Unternehmens und entsprechenden Technologien. Aber ohne Veränderungen geht das einfach nicht. Am Ende muss es doch Arbeitszeit-Einsparpotenziale geben, die bisher nicht genutzt werden.  

JD

Auf jeden Fall. Es kommt immer darauf an, was für eine Arbeit wie erledigt wird und welche Rolle Technologie dabei spielt. Und ich würde dabei immer nach vorne gucken und mich fragen, in welchen Berufsgruppen man Technologien so einsetzen kann, dass zum Beispiel Routine- oder Verwaltungstätigkeiten automatisiert werden können. Da sind wir in Deutschland aber sehr zögerlich im Verhältnis zu anderen Ländern. Außerdem gibt es natürlich Berufsgruppen, die ganz anders gefordert werden, wie zum Beispiel die Gastronomie, wo entsprechende Zeiteinsparpotenziale schwer vorstellbar sind. Anders dagegen bei den Lokführern, wo sehr wahrscheinlich autonom fahrende Züge die Zukunft bestimmen und diesen Beruf damit komplett verändern werden. Da darf man allerdings nicht nach Deutschland schauen, sondern nach Asien, wo der gesamte Schienenverkehr ganz anders konzipiert ist. Hier wird die Arbeitszeit den Möglichkeiten der Technologie angepasst. Zeit ist meiner Meinung nach zwar ein Maßstab, der plakativ ist, aber in Zukunft in vielen Berufen keine Rolle mehr spielen wird und sozusagen die Ökonomie gar nicht mehr betrifft. 

In Deutschland führen wir dagegen im Moment zu viele Scheindebatten, vor allem um Work-Life-Balance und die Vier-Tage-Woche. Dabei geht es doch um etwas völlig anderes. Wenn man sich anschaut, dass Home-Office dazu führt, dass Teams sich auflösen, dass sich verändert, wie wir interagieren, wie wir Arbeit beschleunigen, uns gegenseitig helfen usw., dann stehen wir doch ganz am Anfang einer völlig neuen Kultur der Zusammenarbeit, jedenfalls in den Bürobereichen. Ich kann das auch immer anhand meines eigenen Lebenslaufs erklären: Als ich meine Lehre als Schriftsetzer begann, war mein Vater der Überzeugung, das sei ein absolut zuverlässiger und zukunftssicherer Beruf. Bereits im zweiten Lehrjahr war klar, dass ich diesen Beruf nie ausüben werde, weil genau zu der Zeit Bleisatz durch Fotosatz ersetzt worden ist, wenig später kam Digitalsatz. Heute ist es doch selbstverständlich, dass man keine Sekretärin mehr braucht, weil man seine E-Mails selbst beantwortet und mit Hilfe künstlicher Intelligenz ganze Textpassagen erstellen kann, wenn man den Zugang zu KI nutzt. Also wir erleben eine unglaubliche Rationalisierung, bei der doch vor allem interessant ist, wie wir die für uns nutzen können. Wir sollten uns doch fragen, wie wir das, was meines Erachtens Maschinen und Programme nicht können, einsetzen, um besser zu leben. 

PW

Kleines Wirtschaftswunder dank Vier-Tage-Woche.

Tagesschau am 8. März 2024

Also muss man die inhaltlich falsche Aussage zur Vier-Tage-Woche im aktuellen Kontext sehen und verstehen. Und zwar aus der Perspektive des Politikers: Zahlreiche Streiks, Work-Life-Balance, Wirtschaftskrise, schwindende Wirtschaftskraft, drohender Wohlstandsverlust etc. Und dann kommt die Debatte über die Arbeitszeit-Verkürzung auf den Tisch. Da fragt man sich schon: Wie soll das gehen? 

Spannend ist in diesem Zusammenhang der Blick auf ein Pilotprojekt in Großbritannien, wo 2022 61 Betriebe die Vier-Tage-Woche eingeführt haben. Und zu dem die Tagesschau am 8. März 2024 titelte: „Kleines Wirtschaftswunder dank Vier-Tage-Woche.“ Nach dem zweijährigen Pilotprojekt wollen 54 der 61 Unternehmen bei der verkürzten Arbeitszeit bleiben. Manche der Betriebe haben bis zu 15 Prozent mehr Produktivität erreicht. Es wurden aber auch konsequent teils banal erscheinende Veränderungen eingeführt wie verkürzte Pausen oder limitierte Besprechungszeiten. Die Mitarbeitenden erzählen von weniger Small Talk, fokussierterem, strafferem Arbeiten und dem Effekt, nach drei freien Tagen besser erholt zu sein.

JD

Das zeigt doch wieder, dass es ganz entscheidend ist, wie wir arbeiten. Also was verändern wir, um weniger zu arbeiten. Die reine Betrachtung der Quantität reicht einfach nicht, es braucht auch den Blick auf die Qualität der Arbeit. Und ich glaube, dass das auch die wirkliche Herausforderung ist. Und zwar sehr unterschiedlich gelagert gemäß den Herausforderungen der unterschiedlichen Berufe. Ich würde sagen, dass Remote Working schlicht eine logische Konsequenz einer digital vernetzten Gesellschaft ist. Und die Rationalisierung findet dabei doch einfach, also quasi nebenbei, statt. Man braucht sich doch nur mal anzuschauen, wie sich der Markt für Büroflächen gerade entwickelt. Die Unternehmen profitieren davon, dass sie weniger Quadratmeter zur Verfügung stellen müssen. Bei gleichbleibenden oder sogar wachsenden Mitarbeiterzahlen.  

Dass Mehrarbeit zwangsläufig zu mehr Erfolg führt, gilt einfach nicht mehr. Das war früher. Und früher ist vorbei. Die Komplexität nimmt auch in der Arbeitswelt zu. Ich glaube, dass wir viel genauer darauf achten müssen, womit wir eigentlich unser Geld verdienen. Was ist unsere Leistung, die wir dem Markt anbieten und für die wir auch nachgefragt werden? Womit haben wir Erfolg? Und erst dann: Wie organisieren wir diese Leistung für uns am besten? Und wenn man da jetzt noch die Künstliche Intelligenz dazu betrachtet, dann erkennt man doch glasklar, dass uns der große Umbruch erst noch bevorsteht. Aktuell profitiert doch nur ein sehr begrenzter Teil der Arbeitswelt von der KI. Oder wird von ihr bedroht. Je nach Blickwinkel. 

PW

Dass Mehrarbeit zwangsläufig zu mehr Erfolg führt, gilt einfach nicht mehr. Das war früher.

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Klarna ersetzt nach einer Testphase seit März 700 Menschen aus dem Kundenservice durch Künstliche Intelligenz. Ein KI-Chatbot erweist sich als äußerst erfolgreich. Innerhalb eines Monats bearbeitet er 2,3 Millionen Kundengespräche und reduziert die Kundenrückfragen um 25 Prozent. Kundenzufriedenheitsumfragen zeigen ähnliche Zustimmungsraten für KI und menschliche Mitarbeiter*innen, wobei der Chatbot die Bearbeitungszeit von Anfragen von durchschnittlich elf auf zwei Minuten verkürzt. Zudem verbessert der mehrsprachige Chatbot den Support für nicht-englischsprachige Kund*innen erheblich. 

JD

Gut, dahinter steckt das Prinzip, dass – und das muss uns allen klar sein – alles, was man abschließend beschreiben kann, dann auch ein Programm oder ein Algorithmus wird. Und weiter muss uns bewusst sein, dass unsere Stärke im Denken liegt, in kreativer Arbeit, in der Verknüpfung ganz unterschiedlicher Impulse, Assoziationen, um so auf gänzlich neue Gedanken zu kommen. Und dann könnte man doch auch sagen: Ok, kommt auf neue Gedanken und lasst die alten Gedanken die Programme machen. Und das wäre doch dann ein wirtschaftlicher Fortschritt. Nur wie man das umsetzt, das muss detailliert auf einzelne Berufsgruppen heruntergebrochen werden, das muss mit den Teams, den Menschen diskutiert und gestaltet werden. Und hier muss man natürlich beachten, dass Besitzstanddenken in Deutschland eben wahnsinnig verbreitet ist. Befragungen und Statistiken geben ziemlich klar Auskunft darüber, dass die meisten Deutschen am liebsten in der Vergangenheit leben würden. Und nicht in der Zukunft. Das sieht man ja auch in der Politik, am Aufstieg von Parteien, die versprechen, sie würden das Alte wieder herstellen. Das entspricht bedauerlicherweise den Wünschen vieler Menschen. Also: Lasst es einfach so, wie es ist. Aber das geht halt nicht. Und ich glaube, dass uns diese Übergangsphase unheimlich stresst. Dabei legen wir immer wieder alte Maßstäbe an neue Dinge an. Das bringt uns aber nicht weiter und das hilft auch nicht. Vielmehr gilt der einzige Maßstab, den es immer schon gibt: Was erreichen wir damit? Was ist der Effekt unserer Tätigkeit? Und wie können wir diesen Effekt steigern? Dieses Streben nach Steigerung entspricht dem wirtschaftlichen Denken. Mit der Idee dahinter, dass es uns dabei auch besser geht. 

PW

Das ist natürlich ein superspannender Hinweis, den Sie da geben. Schließlich reden wir von Deutschland, einem Land, das nahezu ausschließlich davon lebt, dass es Innovationen hervorbringt. Und zum Beispiel in der Produktionstechnologie immer noch dafürsteht, nach wie vor mehr Produktivität schaffen zu können, wenn es darauf ankommt. Oder im Automobilbau stets die technische Spitze dargestellt hat. Und dass das alles, dass diese für uns so entscheidenden Schlüsseltechnologien, aktuell in diesem Besitzstandsdenken verharren, wirkt doch geradezu tödlich, oder? Und das hat mich wahrscheinlich auch an dem Zitat so getriggert, dass wir nicht sagen, ok, wir haben Technologien vor uns liegen, wir wissen, was wir können, jetzt krempeln wir mal wieder die Ärmel hoch und entwickeln das alles für uns weiter und machen es nützlich. Das wird sicher anstrengend und stressig werden, aber dann können wir wirklich die Vier-Tage-Woche diskutieren.

JD

Man kann das Verharren ja sehr schön bei den traditionellen deutschen Automobilherstellern beobachten, die gerade von allen möglichen Seiten unter Druck geraten, vor allem aber von Digitalunternehmen wie Xiaomi, die jetzt einfach Autos auf den Markt bringen. Weil Mobilität mittlerweile in erster Linie durch Digitalisierung Innovation erfährt und nicht durch den Maschinenbau. Und da muss man sehen, dass diejenigen, die mit den durch den Maschinenbau getriebenen Entwicklungen groß geworden sind die digitale Welt erst mal einigermaßen skeptisch betrachten. Unter anderem, weil ihnen ja auch das fundierte Wissen fehlt. Und diese, sagen wir mal, kulturelle Spannung, kann man ja fast in allen Bereichen sehen. Weil Mathematik, Programmierung und ähnliches nicht unbedingt etwas ist, was bisher in unserer Kultur hoch angesehen ist. Und das Spannende ist doch auch hier wieder die weitere Entwicklung. Wenn man weiß, dass die Satellitentechnik in Zukunft die Autos autonom fahren lassen wird, dann kann man sich doch denken, dass das daraus eine ganz, ganz andere Realität entstehen wird. Wir werden dann nicht mehr darüber sprechen, ob unsere Autobahnen eine vierte Spur brauchen oder sowas ähnliches, sondern wir werden wissen, dass wir mit dieser neuen Technologie den Verkehr noch viel kompakter machen können. Um das zu schaffen, darf man sich aber nicht damit beschäftigen, wie man das Gewohnte weiter verbessert. Vielmehr muss man auf der Basis einer anderen Technologie aus einer völlig neuen Perspektive das Thema individuelle Mobilität angucken. 

Und um jetzt wieder zur Arbeitszeit zu kommen, wäre doch hier der wirklich spannende Ansatz eben nicht zu sagen: Wir müssen alle eine Stunde länger arbeiten. Sondern: Lass uns doch täglich eine Stunde weniger arbeiten als bisher. Und die eine Stunde dazu nutzen, die Dinge aus einer völlig anderen Perspektive anzuschauen und zu überlegen, was wir Neues machen können.

PW

Und die eine Stunde dazu nutzen, die Dinge aus einer völlig anderen Perspektive anzuschauen und zu überlegen, was wir Neues machen können.

Das finde ich wirklich einen sehr coolen Gedanken. Die Agentur bekommt in den letzten Jahren sehr viele Aufträge im Employer Branding. Und ich begleite bzw. habe diese Projekte mit durchaus gemischten Gefühlen begleitet und gestaltet. Einerseits bin ich froh darüber, dass man sich Gedanken darüber macht, wer man als Arbeitgeber sein will und wie es sich für die Mitarbeitenden anfühlen soll, täglich dort zu arbeiten. Andererseits geht und ging mir das oft nicht weit genug, weil es zu sehr das Gewohnte verbessert und zu wenig diese völlig neue, in die Zukunft gerichtete Perspektive einnimmt. Und damit sind viele Employer Brands wieder nicht in der Lage, für die Arbeit die neuen, anderen Rahmenbedingungen zu schaffen, die es eben vielleicht für die Zukunft braucht. Die jungen Menschen scheinen doch gerade diese anderen Rahmenbedingungen zu suchen und treffen auf eine Welt, die ihnen das überhaupt nicht bietet.

JD

Dazu passt eine Meldung, die ich heute morgen gefunden habe. Der Gastronomieverband der USA hat ein Ranking veröffentlicht, welche Speisen aktuell besonders nachgefragt werden. Und auf Rang 4 taucht ein Essen auf, das über TikTok populär geworden ist. Und das muss man sich jetzt mal als Kommunikationsinteressierter vorstellen. Früher hat man eine Innovation gemacht und hat diese über Werbung und PR in den Markt gebracht. Heute entsteht ein Trend in einem sozialen Medium, wird von den Leuten aufgegriffen und beginnt so, die Realität zu prägen. Und das dann auch noch in einem sehr bodenständigen Gewerbe wie der Gastronomie. Da findet eine Umkehrung statt. Wir packen sozusagen nicht mehr die Realität in unsere Medien und bilden sie ab, sondern die Medien prägen, jedenfalls bei den Jüngeren, die Realität. Und das ist etwas, das für die Arbeitswelt fundamental neue Möglichkeiten schafft. Weil diese Erkenntnis dazu führt, dass man Dinge ganz anders lösen kann.

PW

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Ok, fassen wir nochmal zusammen: Die Diskussion über Arbeitszeit ist nicht die richtige. Wir müssen vielmehr darüber diskutieren, wie wir neue Perspektiven einnehmen können, wie wir diese Umkehrungen nutzen und die Zukunft angehen können, dann kommt die verkürzte Arbeitszeit von ganz allein. Hat also zum Beispiel die GDL mit ihren Forderungen einfach recht? Mir fehlt tatsächlich die Fantasie, wo bei der Bahn die Effektivität entstehen soll, die es erlaubt, weniger zu arbeiten, ohne dass es einfach durch massive Preiserhöhungen auf die Reisenden abgewälzt wird.

JD

Ich bin überzeugt davon, dass es sehr anstrengend ist, über Stunden konzentriert in einem Netzwerk wie der Bahn zu arbeiten, das eigentlich Technologien nutzt, die von vorgestern stammen. Das ist der eine springende Punkt. Das andere Thema ist, dass kollektive Verkehrsmittel, wie eine Bahn, in anderen Ländern ganz, ganz anders vorangetrieben werden. Wenn man nach China schaut, da fahren die Züge 300 km in der Stunde, in Japan halten sie millimetergenau an dem dafür auf dem Bahnsteig angebrachten Strich und sie sind auf die Minute pünktlich.

PW

Italien hat jetzt eine Bahnverbindung zwischen Mailand und Rom eingerichtet, der Zug benötigt für die Strecke 2,5 Stunden.

JD

Das glaube ich sofort. Und er fährt dabei ebenfalls pünktlich. Man muss einfach sehen, dass das Geld in Deutschland nicht in den Schienenverkehr investiert wurde, sondern in die Infrastruktur für Autos. Diese Entscheidung prägt unser Land. Dass dann ein einzelner Berufsstand besondere Forderungen hat, weil er darunter leidet, verstehe ich sofort. Aber ich finde, dass das ein Kampf ist, der unheimlich ablenkt. In Wahrheit geht es doch darum, was wir heute machen könnten. Wir müssen ja nicht gleich dieselbe Bahnperfektion haben wie in Japan oder China. Aber wir könnten darüber nachdenken, alles ganz anders zu lösen. Einfach mal hinsetzen und überlegen, ob das, wie wir unsere Produktivität bei der Bahn steigern wollen, überhaupt alles ist, was der Markt der Möglichkeiten uns bietet. Und haben wir die Leute, die das angehen und umsetzen können? Das ist doch eine ganz andere Situation als vor zehn Jahren, wo wir einen Happiness Manager haben wollten und die Generation Y das Thema Work-Life-Balance eingefordert hat. Wir sind an einem Evolutionssprung, an dem es uns gut täte, diese Stunde, die wir weniger arbeiten wollen, erstmal in die Frage zu investieren: Was für Möglichkeiten haben wir? 

PW

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Das finde ich jetzt schon mal einen fast perfekten Schlusssatz. Den lassen wir am besten einfach so stehen. Was für Möglichkeiten haben wir? Das ist doch das, was zu diesen Scheindebatten führt und uns generell blockiert. Also, dass wir nicht so denken, dass wir uns nicht fragen: Was für Möglichkeiten haben wir?

JD

Das finde ich auch das Interessante an meiner eigenen Disziplin, aus der ich ja eigentlich raus bin, aber immer wieder in Betrieb genommen werde. Trendforschung ist in den USA aus der Problematik der Überproduktion heraus entstanden. Man hatte zu viele Produkte, zu viele Angebote und man wusste nicht genau, wie man das alles verkaufen soll. Und es ist kein Zufall, dass es die Zigarettenindustrie war, die Trendforschung in Deutschland eingeführt hat. Weil man erkannt hat, dass man anderes Marketing machen musste, also Geschichten erzählen, den Nerv treffen, Images schaffen. Das war aber alles unheimlich aus der Gegenwart heraus. Man hat die Leute nicht mehr befragt, man hat sie beobachtet und daraus seine Rückschlüsse gezogen. Das funktioniert heute völlig anders. Sie brauchen heute klare Vorstellungen, wo sie hinwollen. Das fehlt uns gerade in Deutschland bei diesen ganzen kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Diskussionen. Also erstens zu erkennen, welche Möglichkeiten wir eigentlich haben. Und dann zum Beispiel zu sagen: Ok, davon wählen wir jetzt mal drei aus und spielen das mal durch. Wir sagen aber im Moment: Wir haben gar keine Möglichkeiten, wir müssen uns verteidigen und wieder zurück gehen.

Es fällt doch auf, dass sämtliche große Beratungsunternehmen in Deutschland aktuell Zukunftsszenarien veröffentlichen, die aufzeigen, wohin wir uns entwickeln könnten. Nur in der Politik haben wir das nicht. Wir haben keine Idee, wie wir das moderne Deutschland schaffen wollen. Wir wissen, dass wir etwas tun müssen. Wir wissen, dass es Veränderung braucht. Aber alles geschieht aus so einer Angsthaltung heraus. Es ist nicht positiv besetzt.

PW

Wir haben keine Idee, wie wir das moderne Deutschland schaffen wollen. [... ] alles geschieht aus so einer Angsthaltung heraus.

Ich denke oft darüber nach, was da, auch bezogen auf Arbeit, passiert ist. Ich bin Jahrgang 1961 und gehöre damit zur Generation Null Bock. 

JD

Also Punker.

PW

Ja gut, ich war jetzt kein Punker mit Sicherheitsnadel im Mundwinkel, aber die Haltung war schon, dass wir gedacht haben, No Future, das gilt vor allem für uns. Dann wurden wir jedoch mit einem Arbeitsmarkt konfrontiert, der zwar Perspektiven bot, in dem aber vor allem ein unglaublicher Konkurrenzkampf herrschte. Auf eine Stelle 50 Bewerbungen, heute ist das ja genau umgekehrt.

JD

Absolut, 50 Unternehmen bewerben sich um ein Talent. 

PW

Genau. Und vielleicht lähmt das einfach auch. Wahrscheinlich besteht die Kunst doch darin, den Menschen und insbesondere der jungen Generation das zu vermitteln, was sie gerade gesagt haben: Dass sie alle Möglichkeiten hat, dass Leistung sich lohnt und Fortschritt keinesfalls aus der Angst getrieben passieren wird. Ich glaube, das schaffen wir als Gesellschaft aktuell nicht. 

JD

Das ist genau das, was uns schwächt. 

PW

Wenn wir Älteren das Vertrauen in die Jüngeren entwickeln könnten, dass sie diese Möglichkeiten ergreifen und auch nutzen, dann würden wir diese ganzen Diskussionen und Scheindebatten nicht führen. Zumindest nicht auf diese Art.  

JD

Ja, das stimmt. Und die haben natürlich ganz andere Probleme als unsere Generationen damals. Man schaue nur die Kriege an, die aktuell in der Welt geführt werden, die Renaissance der autoritären Systeme, diese teils mittelalterliche Situation, den Klimawandel. Es gibt einfach viele Herausforderungen. Aber bei vielen Herausforderungen gibt es auch viele Möglichkeiten. 

PW

Aber bei vielen Herausforderungen gibt es auch viele Möglichkeiten.

Jetzt ist es doch ein anderes Schlusswort geworden, aber auch ein sehr substanzielles: Bei vielen Herausforderungen gibt es auch viele Möglichkeiten. Vielen Dank, das war ein anregendes Gespräch, Herr Wippermann. Wie immer erhellend. Bleiben Sie gesund, viel Erfolg bei Ihren Projekten und wir bleiben in Kontakt.

JD

Danke Ihnen, schön, dass es geklappt hat. 

PW
Autor
Jörg Dambacher
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