“Wir müssten uns treu sein. Wir sind uns aber gerade nicht treu.” Ein Gespräch mit Karsten Kilian über die Marke Deutschland, Orientierung, Udo Lindenberg, Identität, Hidden Champions.
Professor Karsten Kilian, geboren 1972, promovierte nach seinem Studium in internationaler Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim und der University of Florida an der Universität St. Gallen über Determinanten der Markenpersönlichkeit. Nach mehreren Jahren bei einem Internet-Startup arbeitete er für Professor Hermann Simon, Gründer von Simon-Kucher & Partners und Erfinder der Hidden Champions. Professor Kilian hat das Markenportal Markenlexikon.com initiiert. Er ist Gründungsmitglied des Expertenrats Technologiemarken und lehrt seit 2012 als Professor für ABWL und Markenmanagement an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt (THWS). Daneben lehrt er seit mehr als zehn Jahren als Gastprofessor an der Universität Erlangen-Nürnberg. Zu seinen Forschungs- und Beratungsschwerpunkten zählen die Markenstrategie, insbesondere der Purpose, die Markenidentität und die Markenverankerung bei Mitarbeitern, sowie das Influencer Marketing. Wir haben mit ihm unsere Gesprächsreihe zur Marke Deutschland fortgesetzt.
Herr Kilian, inwieweit empfinden Sie es als legitim, Nationen unter Markenaspekten zu beurteilen.
Wenn ich mir Deutschland anschaue, dann haben wir mit „Made in Germany“ einen starken Ansatzpunkt, der uns von England als Stempel auf unsere Waren und Dienstleistungen aufgedrückt wurde. Wir haben „Made in Germany“ im Laufe der Jahrzehnte mit unseren charakteristischen Stärken aufgeladen. Deshalb arbeitete es viele Jahre für uns. Es funktioniert ähnlich wie das übliche Branding. Im Prinzip ist eine Marke nichts anderes als ein positives Vorurteil, vielleicht auch ein positiver Stereotyp, und jedes Land, jede Bevölkerungsgruppe hat gewisse Eigenarten, die zu einem spezifischen Bild führen und damit zu einer ganz bestimmten Wahrnehmung.
Es entstehen seit einigen Jahren vermehrt Länder- und Destinationsmarken. Ich halte das für legitim und finde, dass es das Zusammenleben von uns Menschen erleichtert. Die geteilten Vorstellungen organisieren uns mental, wenn wir in den Urlaub fahren oder wenn wir Geschäfte machen, weil wir meist ziemlich genau wissen, was uns erwartet. Das ist eine der Aufgaben von Marken: Sie machen uns das Leben leichter und geben uns Orientierung. Wir haben ein Bild von uns und von anderen. Das hilft.
Allerdings sind diese Vorstellungen nur selten rechtlich geregelt oder geschützt. Deshalb kann man es im Zusammenhang mit Nationen, für die Markenschutz im eigentlichen Sinne kaum möglich ist, meist nicht als Marke bezeichnen. Es ist unsere Identifikation, unsere Sozialisation. Ob man es auf die Markenebene heben muss, sei dahingestellt. Auf jeden Fall gilt: Wir organisieren und kategorisieren fast alles – und eine bedeutende Rubrik sind nun mal Länder und Nationen.
Wird man zwangsläufig immer irgendwie als Marke wahrgenommen? Ob als Mensch, als Nation oder als Unternehmen?
Im Prinzip ja. Entscheidend ist, dass die Prinzipien, die gleichen sind. Ein Produkt, eine Dienstleistung, ein Ort oder ein Gebiet steht für bestimmte Werte, hat typische Charaktereigenschaften und prägende Merkmale. Das gilt für Nationen und Unternehmensmarken gleichermaßen – und für Menschen. Ich erkläre meinen Masterstudierenden das Phänomen Marke gerne am Beispiel von Udo Lindenberg. Er ist eine der profiliertesten Personenmarken, die ich kenne. Man muss nur den Hut und die Brille abbilden und schon weiß jeder, wer gemeint ist. Wenn Udo Lindenberg einen Post veröffentlicht, dann klingt das zu 100% nach Udo Lindenberg. Der Panikrocker schreibt seine Posts immer mit dem ihm eigenen, schnoddrigen Jargon. Daneben ist er ein Meister des Co-Branding mit anderen Künstlern. Erfolgreichstes deutschsprachiges Lied 2023 war sein Hit „Komet“ gemeinsam mit Apache 207. Auf diese Weise erreicht der 78-jährige Rock ‘n‘ Roller immer wieder jüngere Zielgruppen. Entscheidend dabei ist, dass er sich bis heute immer treu geblieben ist.
Marken machen uns das Leben leichter und geben uns Orientierung.
Wie beurteilen Sie unter den besprochenen Aspekten die Performance der Marke Deutschland? Welches Bild geben wir ab? Was hält und erwartet man von uns?
Das ist wie bei Udo Lindenberg: Wir müssten uns treu sein. Wir sind uns als Land aber gerade nicht treu. Ich glaube wir stellen aktuell unseren Markenkern, unsere Identität sowohl gesellschaftlich und kulturell als auch politisch und wirtschaftlich zu sehr in Frage. Wir verfügen über prägende Eigenschaften: die deutschen Tüftler, die Dichter und Denker, die zupackenden Macher. Daraus entstanden sind besondere Fähigkeiten und Kompetenzen im Automobil- und Maschinenbau, die ihresgleichen suchen. Jetzt wird von der Politik mit dem Hinweis auf den Klimawandel massiv in diese Branchen eingriffen, weshalb wir unseren roten Faden zu verlieren drohen. Der Klimawandel ist sehr wichtig. Aber wir müssen verstehen, dass wir wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen, die aktuell absolut notwendig erscheinen, nur aus einer Position der Stärke bewältigen können. Wir sind jedoch gerade dabei, uns zu selbst schwächen, den Ast abzusägen, auf dem wir komfortabel sitzen. Die Politik lädt uns immer mehr Vorgaben, Verbote und Vorschriften auf. Das alles führt dazu, dass der Ast zu brechen droht und wir möglicherweise in die Knie gehen. Die Marke Deutschland glänzt nicht mehr, sie ist matt, zum Glück aber noch nicht schachmatt. Wir müssen versuchen, unseren roten Faden wiederzufinden und kraftvoll nach vorne zu gehen, Klimaschutz inklusive.
Eine der größten Stärken unseres Landes sind die Hidden Champions, die unbekannten Europa- und Weltmarktführer, die es nirgendwo sonst auf der Welt in diesem Ausmaß gibt. Etwa jeder zweite Hidden Champion hat seinen Firmensitz in Deutschland. Wir haben darüber hinaus so viele beeindruckende Mittelständler, die von der Politik, im Gegensatz zu den großen Unternehmen, kaum gesehen und gewürdigt werden. Aber gerade dieser Mittelstand ist unser Rückgrat, das uns ermöglicht, aufrecht durch die Welt zu gehen. Die Extraklasse im Mittelstand sind die meist global agierenden Hidden Champions. Ich sehe mittlerweile die große Gefahr, dass diese Unternehmen sich schlicht nicht mehr auf den Standort Deutschland verlassen und sich stattdessen in der Welt nach besseren Rahmenbedingungen umsehen. Internationale Mittelständler können ihre Märkte auch aus Frankreich oder den USA bedienen. Der Firmensitz muss nicht mehr zwangsläufig in Deutschland sein.
Das ist insofern ein Problem, als dass diese Unternehmen bislang tief in ihren jeweiligen Regionen verwurzelt sind und dort eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielen. Diese Verankerung würde verloren gehen, sollten sie verlagert oder verkauft werden. Uns muss klar sein: Viele ausländische Investoren legen auf die Verbundenheit mit der Region keinen Wert.
Gleichzeitig sind wir in Deutschland mit unseren Diskussionen um die Vier-Tage-Woche und die Work-Life-Balance nicht mehr wirklich attraktiv für Investoren. Wir sind viele Jahrzehnte extrem leistungsbereit gewesen – mit dem Wirtschaftswunder als prägendem Erlebnis in den 1950er und 1960er Jahren. Für viele Generationen war voller Einsatz selbstverständlich, auch samstags. Uns muss klar sein, dass Wohlstand aus Leistung erwächst und damit aus der Bereitschaft, in die Hände zu spucken und mit anzupacken. Nehmen Sie zum Beispiel einen Handwerker, einen Maler: Der benötigt nach wie vor eine bestimmte Anzahl an Stunden, um einen Raum zu tapezieren oder zu streichen. Wenn der jetzt weniger arbeiten will, dann muss er zwangsläufig weniger verdienen, damit das in der wirtschaftlichen Balance bleibt. Oder seine Leistung wird teurer, so dass sie sich weniger Menschen leisten können. Und selbst zum Pinsel greifen müssen.
Udo Lindenberg, das ist eine Marke, sprichwörtlich. Udo macht sein Ding – und damit Branding.
Ich hatte zu diesem Thema erst kürzlich ein interessantes Gespräch mit Peter Wippermann, Trendforscher aus Hamburg. Es gibt einen Modellversuch im Süden Englands, wo verschiedene Unternehmen über drei Jahre auf die Vier-Tage-Woche umgestiegen sind. Das lief sehr erfolgreich. Wobei Handwerker genau die Ausnahme von dieser Regel sind – und die Bahn. Wenn ein Lokführer weniger Stunden arbeitet, dann braucht es mehr Lokführer, was die Zugfahrt weiter verteuert.
Es sei denn, man lässt weniger Züge fahren oder sie sind automatisiert unterwegs.
Genau. Einige der Teilnehmer an diesem Versuch haben trotzdem ein regelrechtes Wirtschaftswunder erlebt. Und zwar deshalb, weil sich die Mitarbeitenden durch den zusätzlichen freien Tag entspannter und erholter fühlten, was sich auf ihre Leistungsfähigkeit ausgewirkt hat. Auch haben sie fokussierter gearbeitet und dasselbe wie bisher in vier Tagen vollbracht. Damit sind wir bei der Bürokratiediskussion in unserem Lande, denn man kann den Eindruck gewinnen, dass wir relativ oft vollkommen sinnlos beschäftigt werden.
Da könnte die Künstliche Intelligenz hilfreich sein. Die Ergebnisse des von Ihnen beschriebenen Versuchs finde ich überraschend positiv. Man muss sich immer die Frage stellen, ob die Menschen dauerhaft so effektiv und effizient arbeiten würden oder war das nur der Fall, weil sie wussten, dass sie an einem Versuch teilnehmen und deshalb genau hingeschaut wird. Haben sie sich deshalb vielleicht besonders viel Mühe gegeben? Wer wollte nicht dauerhaft an vier Tagen das gleiche verdienen wie an fünf? Das spornt erst mal an. Was mich irritiert, sind einzelne frühere Studierende von mir, die mit einem hervorragenden Abschluss ihren ersten Job mit einer 32-Stunden-Woche antreten. Sie verzichten damit auf Gehalt, konkret auf 10 bis 20 Prozent des Gehalts, die den Unterschied machen, die am Monatsende übrigbleiben, von denen man sich was Besonderes leistet oder Rücklagen bildet. Wir haben viele Sonderfälle, bei denen reduzierte Arbeitszeiten notwendig und sinnvoll sind. Nehmen Sie Menschen, die ihre Eltern pflegen, ihre Kinder großziehen, nicht mehr voll arbeitsfähig sind. Aber bei denjenigen, die voll arbeiten könnten, verstehe ich das nur sehr bedingt. Wir müssen uns – überspitzt formuliert – klar werden: Halbe Arbeitszeit bedeutet halber Wohlstand!
Wir stellen aktuell unseren Markenkern, unsere Identität sowohl gesellschaftlich und kulturell als auch politisch und wirtschaftlich zu sehr in Frage.
Interessanterweise wird in diversen Befragungen zur Marke Deutschland immer wieder die Leistungsfähigkeit der Deutschen betont. Wir gelten als gewissenhaft und fleißig, wir gelten als zuverlässig und genau. Das sind wesentliche Elemente unseres Markenkerns.
Die Frage ist doch, wo ich mich verwirklichen will – und kann. Die Generation X und die Boomer wollten sich noch im Job verwirklichen und zu Wohlstand gelangen. Man wusste, dass es mit ziemlicher Sicherheit funktionieren wird. Die Generation Z glaubt nicht mehr an diese Erfolgsstory. Die Aussicht auf eine gute Rente, die Perspektive, sich irgendwann mal ein eigenes Haus leisten zu können, ein eigenes Auto, alles das scheint für diese Generation in weiter Ferne. Schauen Sie doch, wie sich die Preise entwickelt haben. Gerade beim Wohnen ist es doch mittlerweile eine einzige Katastrophe. Die Mieten sind auf Höchststand und gleichzeitig ist der Wohnraum selbst im Umland der Ballungszentren knapp. Die jungen Menschen reduzieren angesichts dieser Umstände einfach ihre Ziele. Und wenn es keine großen Ziele im Leben mehr gibt, wozu übrigens auch das Gründen einer Familie gehört, dann fehlt einfach die Motivation, der Biss.
Wir befinden uns als Gesellschaft gerade in einem schwierigen Spannungsverhältnis und tarieren unser Gesellschaftsmodell neu aus: Wie viel Wohlstand ist unter den gegebenen Umständen noch drin? Was muss jeder einzelne dazu beitragen? Was muss der Staat dafür tun? Und wo sollte er uns besser aus dem Weg gehen? Aktuell meinen viele unserer Politiker, dass sie alles haarklein und umfassend steuern, regulieren und administrieren müssen. Gleichzeitig haben die jungen Menschen auf die typisch deutschen Eigenschaften keinen Bock mehr und beklagen, dass ihnen schlicht eine Perspektive fehlt. Manche erwarten aufgrund des Klimawandels den Weltuntergang, andere empfinden es als wenig lohnend, bis 67 Jahren zu arbeiten, weil sie davon ausgehen, dann sie sowieso keine Rente mehr bekommen. Deshalb ist bei uns gesellschaftlich einiges aus dem Lot geraten. Ich diskutiere mit meinen 18- und 22jährigen Kindern darüber und spüre selbst da eine gewisse Verlorenheit. Unser Umfeld verändert sich: Klima, Kultur, Wirtschaft, Energie, Politik, Krieg. Der Umgang untereinander wird schärfer, nehmen Sie nur die sozialen Medien. Wir machen viel, wir verändern viel und ich fürchte, dass es manchmal zu viel ist. Vielleicht sollten wir weniger aktionistisch agieren – mit mehr Intelligenz und weniger Ideologie.
Zeigen wir die Symptome eines Unternehmens, das meint, sich in zu vielen Bereichen verändern zu müssen, um up-to-date und erfolgreich bleiben zu können und sich dabei doch nur überfordert und verheddert? Das ist doch eine Multikrise, die wir jetzt erleben. Uns fehlt die große Leitidee.
Ja, uns fehlt eine Vision für unser Land. Uns fehlt der dafür notwendige gesellschaftliche Zusammenhalt. Uns fehlen die großen, gemeinsamen Vorstellungen von einer Zukunft, für die es sich lohnt, mit anzupacken. Wir diskutieren die drängenden Themen nicht mehr ausreichend gründlich, respektvoll und sachlich. Wir trauen uns kaum noch etwas zu, wir wägen nicht oder zu lange ab, wir verhindern fast alles. Uns fehlt die Verhältnismäßigkeit, weil uns die verbindende Idee verloren gegangen ist, die uns sagt, was wir gemeinsam erreichen wollen. Zugleich gehen wir notwendigen Konflikten aus dem Weg und schaffen uns auf diese Weise noch mehr Probleme, die mit der Zeit immer größer werden und damit immer schwieriger zu bewältigen. Das hat schon etwas von der „spätrömischen Dekadenz“, von der Guido Westerwelle 2010 sprach. Ich glaube, wir haben den Ernst der Lage noch nicht erkannt. Auch habe ich den Eindruck, dass manche politischen Entscheidungsträger in unserem Land ein zu geringes Grundverständnis von menschlichen Verhaltensweisen und wirtschaftlichen Zusammenhänge haben. Ich bin fest davon überzeugt: Nur, wer die Wirtschaft versteht, kann sie auch sinnvoll politisch gestalten.
Nur, wer die Wirtschaft versteht, kann sie auch sinnvoll politisch gestalten.
Geht es uns immer noch zu gut, um ernsthaft anzupacken?
Wir reden uns das zumindest ein. Die meisten unserer Probleme werden entweder ausgesessen, zerredet, mit Geld zugedeckt oder sie bekommen ein Etikett angeheftet, auf dem steht, dass sie politisch tabu sind. Wir gehen unsere Probleme nicht an, wir verlagern sie bestenfalls mit Schulden auf die Zukunft. Zahlen und Fakten werden heute vielfach ignoriert, manipuliert oder überinterpretiert. Viele bewegen sich mittlerweile sofort auf der Wahrnehmungs- und Haltungsebene und verdrängen oder verdrehen die Fakten. Damit würgen wir die entscheidenden Debatten ab, anstatt sie konsequent und vernünftig zu Ende zu bringen. Pro und Contra wird nicht mehr abgewogen, von manchen sogar als nicht mehr statthaft verneint. Zu vieles ist ideologisch geprägt, zu weniges intellektuell. Uns fehlen echte, solide, ehrliche und faire politische Auseinandersetzungen. In der Wirtschaft wiederum fehlt mir stellenweise der unternehmerische Spirit, der uns anspornt, wieder etwas bewegen zu wollen. Aber wen wundert’s, wenn wir uns zurzeit nicht mal einig sind, was genau wir überhaupt bewegen wollen.
Wenn Sie verantwortlich wären für die Marke Deutschland, welches Vorgehen würden Sie vorschlagen?
Zuerst müssten wir eine Bestandsaufnahme machen: Was hat uns als Land erfolgreich gemacht? Und zwar über alle Ebenen hinweg: Gesellschaft, Bildung, Verteidigung, Wirtschaft, Energieversorgung, Infrastruktur, Bauwesen, alles. Wir müssten wirklich verstehen, verstehen wollen, warum es in den genannten Bereichen lange Zeit wie am Schnürchen lief. Und wo aus welchen Gründen nicht. Nur so können wir erkennen, warum es heute nicht mehr rund läuft. Kurz: Wir brauchen eine ungeschönte, ehrliche, ideologiefreie Bestandsaufnahme. Dann gilt es die Aufgaben pragmatisch zu priorisieren: Wo haben wir die größten Hebel? Wo drückt der Schuh am meisten? Ich meine nicht die Forderung nach Fördermitteln oder gar die Schaffung neuer Sondervermögen, die wir als das benennen müssen, was sie sind: Zusatzschulden. Mit Geld lösen wir unsere Probleme nicht, mit geistreichen Ideen schon eher. Wir müssen abwägen, wo und wann der Staat wirklich helfen kann und wo und wann die Wirtschaft, unsere Gesellschaft oder jeder einzelne für sich ganz privat Dinge besser lösen kann. Zielgerichtet und einfach, das muss das Prinzip sein. Wir dürfen nicht gleich wieder alles verkomplizieren. Das Heizungsgesetz ist ein gutes Beispiel dafür. Wenn Sie die Fördermöglichkeiten verstehen wollen, müssen Sie sich mehrere Stunden einarbeiten. Gefördert wird dann auch noch prozentual und nicht absolut, was Preisverhandlungen für die Geförderten weniger bedeutsam werden lässt. Der Staat übernimmt ja pro Euro Mehrkosten bis zu 70 Cent. Nach oben sind die Beträge zwar gedeckelt, aber der Grenzbetrag wird nur selten erreicht. Zudem muss für die Umsetzung ein riesiger Kontrollapparat aufgebaut werden, der dafür sorgt, dass kein Euro zu viel gefördert wird. Einfach wäre besser – und billiger. Und würde mehr Menschen motivieren, ihre Heizung auszutauschen. Es braucht einfache und eingängige Regelungen, die die Bürger mit in die Verantwortung nehmen und den Staat entlasten. Anträge, Nachweise, Kontrollen könnte man sich beim Heizungsgesetz weitestgehend sparen, wenn jeder einen festen Betrag als Zuschuss bekäme. Rechnung hochladen, bei jeder 10. Rechnung einen Kontrollanruf beim Heizungsbauer tätigen, Geld überweisen. Fertig.
Mit Geld lösen wir unsere Probleme nicht, mit geistreichen Ideen schon eher.
Also: Ungeschönte Analyse, klares Konzept, Einfachheit in der Umsetzung.
Genau. Im Kern sind es drei Fragen: Was hat uns erfolgreich gemacht? Wo stehen wir heute? Und wie kommen wir wieder möglichst schnell in die Erfolgsspur? Wir müssen unser Land wieder zusammenführen. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass mir selbst aktuell auch nicht ganz klar ist, wie unser Zielbild aussehen könnte. Die Sicherung unseres Wohlstands? Wohlstand für alle, wie es Ludwig Erhard bereits 1957 postulierte? Oder Wohlstand 2.0 mit besonderem Augenmerk auf den Klimawandel? Daraus ließe sich ein Masterplan Deutschland 2040 ableiten. Der Plan muss überzeugen und die meisten Menschen unseres Landes hinter sich bringen, über alle Gesellschaftsschichten und Generationen hinweg. Begonnen würde mit den effektivsten und effizientesten Maßnahmen, damit alle schnell spüren, dass der Plan ein guter Plan ist: Ideologiefrei, vernünftig und zielführend. Dann kämen wir auch wieder mit unseren derzeitigen Steuergeldern hin, fast 270.000 gut ausgebildete Menschen würden nicht mehr jährlich ins Ausland abwandern und Talente aus dem Ausland würden gerne zu uns kommen, weil es wieder läuft.
Ist unser Sozialsystem mit seinen Maßnahmen an einem Punkt, an dem es „too much“ ist?
Es ist ganz sicher zu viel, zu viel im Sinne von zu einfach. Es wird den Leuten zu einfach gemacht, keinen eigenen Beitrag leisten zu müssen und stattdessen das eigene Leben auf Kosten Dritter zu gestalten. Wir schaffen zu wenig Anreize, üben zu wenig Druck aus, unser Sozialsystem wieder zu verlassen und auf eigenen Beinen zu stehen. Wir müssen einfach Geben und Nehmen wieder in ein gesundes Verhältnis bringen. Das eine geht nicht ohne das andere, es sei denn man ist krank, behindert oder alt. Wir müssten viel strategischer, viel durchdachter vorgehen – und unternehmerischer agieren. Es gilt, die zur Verfügung stehenden Ressourcen bestmöglich zu nutzen, unnötige Kosten zu vermeiden und das ganze Unternehmen Deutschland erfolgreich zu machen. Wir müssen etwas tun, unser Land wieder fit für die Zukunft machen und dafür sorgen, dass es möglichst allen Menschen gut geht, weil sie sich einbringen, weil sie mitarbeiten, mitdenken und mitgestalten. Diese unternehmerische Denkweise brauchen wir gerade in der Politik.
Viele jungen Menschen haben nach wie vor den Drive, der Deutschland immer ausgezeichnet hat. Davon mehr und wir sind wieder auf der Erfolgsspur!
Was macht Ihnen in Zusammenhang mit der Marke Deutschland Hoffnung?
Was mir wirklich Hoffnung macht, sind zahlreiche Studierende, die ich Tag für Tag erlebe. Wir haben nach wie vor ein beträchtliches Reservoir an jungen Menschen mit hervorragenden Fähigkeiten und großer Begeisterung. Wir müssen sie nach Kräften fördern und fordern. Den Biss, den Leistungs- und Gestaltungswillen bringen viele von ihnen einfach mit. Da ist tatsächlich noch vieles vorhanden, was wir gut brauchen können, um unser Land wieder voranzubringen. Allerdings reden wir insgesamt von zu wenigen Menschen. Laut OECD hatten 2022 nur 37 Prozent der jungen Menschen im Alter zwischen 25 und 34 Jahren eine abgeschlossene Ausbildung oder ein abgeschlossenes Studium und damit einen tertiären Bildungsabschluss. Für eine starke Wirtschaft bräuchte es eher das Doppelte. Wir brauchen 70 bis 80 Prozent qualifizierte jungen Menschen mit der Begeisterung und dem Willen, den ich bei vielen meiner Studierenden sehe. Die haben den Drive, der Deutschland immer ausgezeichnet hat. Davon mehr und wir sind wieder auf der Erfolgsspur.
Herr Kilian, vielen Dank für Ihre Zeit und für das interessante Gespräch.