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11.03.2024

Die Fußball-Nationalmannschaft als wichtiges Asset der Marke Deutschland

Deutschland ist eine Sportnation. Das zeigt der ewige olympische Medaillenspiegel, in dem wir den dritten Platz belegen. Unser allerliebstes Aushängeschild dürfte aber die Fußball-Nationalmannschaft der Herren sein. Wenn sich die Marke Deutschland über die Jahre verändert hat, oder gleichgeblieben ist, kann man das auch beim Fußball sehen und fühlen? An den Personen, am taktischen Stil, an der medialen Rezeption? Komplett kriegen wir das nicht hin, aber wir haben uns mal auf einige Meilensteine konzentriert. Und dabei vielleicht einige wilde Thesen aufgestellt und ein paar persönliche Meinungen ausgebreitet.

1954: endlich wieder wer

Hier waren noch echte Kerle am Start – unversaut vom globalen Business. Malocher aus dem Ruhrpott, Pfälzer Panzergrenadiere, Kriegsteilnehmer. Einfache Jungs aus dem Volke, die an die Front mussten. Der Trainer Sepp Herberger war allerdings gleich 1933 Parteimitglied der NSDAP geworden. Passend dazu ist auch das überlieferte Zitat von DFB-Präsident Peco Bauwens auf der Siegesfeier im – Achtung – Löwenbräukeller: „Da haben die Jungens es wirklich gezeigt, was ein gesunder Deutscher zu leisten vermag, der treu zu seinem Land steht.“ Auweia. Auf der Siegerfeier sang man wieder (oder noch?) „Deutschland, Deutschland über alles …“. Der DFB-Generalsekretär Georg Xandry war im Gegensatz zu Bauwens und Herberger, die man wohlwollend als Opportunisten bezeichnen könnte, ein echter Nazi gewesen und im Dritten Reich „Geschäftsführer des Fachamtes Fußball“.

Und die Kicker selbst? Fritz Walter verkörperte den sympathischen Typ, dem immer alles gelingt. Von Sepp Herberger immer wieder von der Front befreit, wurde es am Ende nochmal knapp: Auf dem Weg in die Gefangenschaft wird er in einem Zwischenlager an der rumänisch-ukrainischen Grenze von einem russischen Kommandanten und Fußballfan erkannt. Dieser schickt Walter nicht nach Sibirien, er darf noch 1945 nach Kaiserslautern zurück. Diese positive Power nahm Walter mit und strahlte auf die Marke Nationalmannschaft ab. Dazu gab es treue Typen wie Max Morlock, der in 900 (!) Spielen für den 1. FC Nürnberg 700 Tore schoss. Verlockenden Angeboten aus dem Ausland widerstand der Proto-Franke eisern. Bei den Saudis hätte der nie gekickt. Der Siegtorschütze Helmut Rahn war Herberger zu sehr Spaßvogel – er schätzte aber seinen Optimismus. Auch das ein wichtiger Teil des Markenkerns von 1954. All diese Jungs waren vereint im so genannten „Geist von Spiez“ – benannt nach dem Ort am Thuner See, in dem die deutsche Mannschaft während des Turniers logierte. Dort schweißte Herberger die bunte Truppe zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen. Wer ein Bier bestellte, musste vorher Herberger fragen – mittlerweile trinkt man ja ein 0,3 Jever fun zu dritt. Aber nur, um auf den WM-Titel anzustoßen. Damals lebte man als Nationalspieler definitiv ungesünder – und das, obwohl damals noch alle durchspielen mussten. Auswechseln war nämlich verboten. Wehleidig sein auch – ebenfalls ein wichtiger Teil des damaligen Markenkerns.

Der Sieg von Bern wird bis heute als mehr als nur ein sportlicher Erfolg für Deutschland gesehen. Knapp zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durften sich die Deutschen wieder gemeinschaftlich über ein Ereignis freuen, ohne gleich des Nationalismus verdächtig zu sein (Ausnahmen siehe oben …). Aus dem „Wunder von Bern“ wurde dann später das „Wirtschaftswunder“. Die Nationalmannschaft schuf direkt Identifikation mit der Marke Deutschland. Viele sehnten sich danach und genossen es dann einfach, als komplett Besiegte zum ersten Mal ein kleines Siegergefühl zu empfinden. Aus der Mannschaft wurden die „Helden von Bern“.

1974: die Fast-Favoriten

Im Vergleich zu 1954 und 1990 war der Jubel, den die Weltmeisterelf 1974 abbekam, eher verhalten. Nach dem dritten Platz 1970 und dem Gewinn der Europameisterschaft 1972 wurde das wohl von ihr erwartet. Feierten die Fans 1954 noch das „Wir sind wieder wer“, gehörte Deutschland 1974 in Europa längst wieder zu den Großen – im Fußball wie in Politik und Wirtschaft. Aus dem Wirtschaftswunderland war eine echte Macht geworden – auch im Fußball. Die Marke Nationalmannschaft war top, hatte aber 1974 trotzdem nicht so viele emotional gebundene Fans. Der Erfolg wurde irgendwie als standesgemäß empfunden. WMWetter gab’s auch nicht, stattdessen Dauerregen und Wasserschlachten. Der kühle Helmut Schmidt war Kanzler, der intellektuell so ein bisschen über Fußball stand. Das gesellschaftliche Klima war sozialdemokratisch geprägt, 1968 war inzwischen auch ein bisschen im Fußball angekommen. Die Haare der Männer wurden länger getragen, nicht zuletzt Paul Breitners Afro verströmte ein wenig Laissez-faire. Willy Brandts Ostpolitik fruchtete und entspannte den Kalten Krieg etwas; Trainer Helmut Schön war so eine Art Hippie unter den Nationaltrainern. Obwohl er seine Erfahrungen als Nationalspieler während des Dritten Reiches gemacht hatte, etablierte er einen sehr demokratischen Führungsstil, indem er die Spieler sehr viel selbst entscheiden ließ. Mit Watergate und Nixons Rücktritt, Ölkrise und stark ansteigender Inflation in ganz Europa war insgesamt einiges los. Die Terrorangst ging um – RAF und IRA hatten Anschläge angedroht, das Münchner Attentat durch die Palästinenser von 1972 war noch sehr präsent. Die deutsche WM-Mannschaft spiegelte diese turbulente Atmosphäre durchaus wider: In der „Zweiten Nacht von Malente“ (benannt nach dem holsteinischen Ort, in dem sich die Sportschule befand, in dem die Mannschaft ihr streng bewachtes Quartier bezog) riss Beckenbauer nach der 0 : 1-Niederlage gegen die damals noch feindliche DDR die Macht an sich, machte anscheinend jeden inklusive Uli Hoeneß zur Sau, sortierte die Versager aus. Er wollte schließlich nicht die 70.000 DM Siegprämie für jeden gefährden, die er in der „Ersten Nacht von Malente“ gegen das Gebot von 30.000 DM herausgehandelt hatte. Auf diese Weise legte er den Grundstein für den erfolgreichen Rest der WM-Kampagne, behaupten einige, auch wenn Helmut Schön in seiner Biografie das Gegenteil behauptet:

Es stimmt nicht, dass Beckenbauer in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1974 auf wunderbare Weise von der Jungfrau zum ganzen Kerl gereift ist.

Wie gesagt, es war Dampf auf dem Kessel. Schaut man sich das Finale von 1974 komplett an, war Deutschland dann trotz der atmosphärischen Unruhe homogener, demokratischer organisiert. Die allgemein als beste Mannschaft gehandelten Holländer waren sehr auf Cruyff fixiert, er dirigierte, stauchte zusammen, war der Boss. Die deutsche Mannschaft war dagegen eher ein Team mit vielen starken Charakteren, vom Kaiser eher gecoacht als angeführt. Die Wissenschaft bestätigt das: Statistisch gesehen waren die Deutschen die bessere Mannschaft – mehr gewonnene Zweikämpfe, mehr angekommene Pässe – so fasst es Gerard Sierksma, Professor an der niederländischen Rijksuniversiteit Groningen, zusammen (vgl. sueddeutsche.de, 2010). Ganz wichtig dabei: „Terrier“ Berti Vogts, der wohl mit seinem herausragenden Abwehrverhalten den Grundstein für den Sieg legte, indem er Johan Cruyff ausschaltete. Das 2 : 1 löste dann ganz zum Schluss doch noch nationale Begeisterung aus; schuf eine späte Identifikation des Landes mit seinem sportlichen Aushängeschild. Aber ein bisschen zäh war’s schon.

1990: die mit den dicken Eiern

Deutschland wird auf Jahre hinaus unschlagbar sein.

– das haute Kaiser Franz ganz locker-flockig am 8. Juli 1990 nach dem Finale in die laue römische Nacht raus. Deutschland war frisch wiedervereinigt und hatte gerade mit dem einzigen Tor des Abends – Foulelfmeter Andi Brehme – gegen Maradonas Argentinien gewonnen. Wie beim DFB (dfb.de) nachzulesen ist, fing alles sehr schwierig an: Vor dem entscheidenden Qualifikationsspiel gegen Wales hatte Teamchef Beckenbauer von einer sehr schwierigen Woche geredet: „Die Mauer fiel und es war unmöglich, die Konzentration hochzuhalten.“ Die Nationalspieler spürten, dass gerade abseits des Fußballs wichtigere Dinge geschahen: „Das Spiel gegen Wales, was ist das schon gegen dieses Ereignis?“, wird Rudi Völler zitiert. Der im Wedding groß gewordene Thomas Häßler fand: „Ich wäre jetzt gern in Berlin gewesen, um dies alles ganz persönlich mitzuerleben.“ (Alle: dfb.de) Zum Glück tat er es nicht, denn er schoss das entscheidende 2 : 1 gegen Wales, so dass es Deutschland als bester Zweiter in den beiden Vierer- Gruppen gerade noch nach Italien schaffte. Gruppenerster war Holland. 1990 war für Deutschland fast ein Heimspiel. Mit Matthäus, Brehme und Klinsmann von Inter und den AS-Rom-Spielern Rudi Völler und Thomas Berthold war eine große Fraktion bereits in Italien zu Hause. Die Roma-Fans wählten Völler zum besten Spieler der Saison 89/90. Inter wurde mit seinen Deutschen 1989 Meister und 1990 Supercup-Sieger Italiens.

Brehme hatte man schon in seiner ersten Saison 88/89 zum besten Ausländer der Liga gewählt. Die Mannschaft bekam durch diesen Umstand ein professionelleres, weltläufigeres Gesicht. Zum ersten Mal waren deutsche Kicker nicht nur an Isar, Ruhr oder Main zu Hause, sie kannten internationale Härte. Das erkannte auch der Kaiser: „Sie haben ein höheres Niveau und professionelleres Verhalten, spielerische Fortschritte und Ernsthaftigkeit erreicht. Italien ist der Bundesliga in allen Belangen überlegen.“ Sein Ziel eine klare Ansage: „Dass eins klar ist – ihr kommt unter die ersten Vier. Und unser Ziel ist der Titel.“ (dfb.de)

Die Stimmung muss gut gewesen sein, zumindest wenn man Jürgen Kohler und seiner Biografie „An mir kommt keiner vorbei“ glaubt: „Es war die beste Stimmung, die ich mit der Nationalmannschaft je erlebt habe. Der Franz hatte uns gewähren lassen und ist nicht wie ein Schießhund hinter uns hergerannt, um uns zu kontrollieren. Es war ihm egal, ob einer fünf Minuten früher oder später ins Bett ging oder mal ein, zwei Bierchen trank. Er hatte die nötige Lässigkeit, über den Dingen zu stehen.“ Starke Truppe, lockerer Trainer also. Die Italien-Legionäre durften ab und an zu Hause schlafen. Jürgen Klinsmann lud seinen Stuttgarter Kumpel Guido Buchwald in sein Haus am Comer See ein – Brehme und Matthäus zeigten den Kollegen ihre Lieblingsrestaurants in ihrem Wohnort Carimate. Matthäus besuchte am trainingsfreien Tag seinen Stamm-Friseur. (dfb.de)

Überhaupt Matthäus – er war der Hansdampf, besiegte Jugoslawien im wichtigen Auftaktspiel praktisch alleine, schoss die zwei wichtigsten Tore beim 4 : 1. Um die Experience „Deutschland mit Italien-Flair“ abzurunden, wurden die beiden anderen Tore von Klinsi und Rudi Völler erzielt. Der damals gerne entnervt abwinkende Kaiser war beruhigt. Mit dem Achtelfinale wurde es dann ernst. Das zu Turnierzeiten ja ohnehin angespanntere Verhältnis der eigentlich guten Nachbarn wurde durch Frank Rijkaards Spuckattacke gegen Rudi Völler verschärft. Dass ungerechterweise beide vom Platz gestellt wurden, provozierte im deutschen Team etwas, was heutzutage gerne als „Reaktion“ bezeichnet wird, wie sie nur Mannschaften mit „Charakter“ zeigen können. Das Ziel hieß nämlich: Rudi rächen. Schaut man sich das Spiel noch einmal an, spürt man die Intensität auf beiden Seiten. Und es fällt auf, dass hier zwar hart, aber – von Rijkaards Spuckerei mal abgesehen – doch sehr fair gekämpft wurde. Wenn ein Spieler fiel, dann war’s auch foul. Noch nichts war zu spüren von der heutigen Schwalben-Inflation. Wurde er am Trikot gezogen, dann zerrte sich ein Klinsi trotzdem in Richtung Tor, weil er es trotzdem unbedingt machen wollte. Es scheint also, als hätte die Wiedervereinigung tatsächlich eine Art „Ich pack das trotz aller Widrigkeiten“-Mentalität aktiviert. Und ähnlich wie später 2014 hatte auch diese Mannschaft das nötige Maß an Reife zur Selbstkritik – eine Fähigkeit, die wichtig fürs Weltmeisterwerden zu sein scheint. Nachdem der sonst so lockere Kaiser nach dem von Schlendrian und vielen vergebenen Chancen geprägten Viertelfinale gegen Tschechien meinte: „Ich dachte, ich hätte eine intelligente Mannschaft. Habe ich aber nicht“, war im Halbfinale gegen England wieder volle Konzentration angesagt. Das Spiel war von beiden Seiten hochklassig, konnte aber regulär nicht entschieden werden. Im Elfmeterschießen zeigte die Mannschaft dann die Nerven echter Gewinnertypen. Im Finale angelangt spielte die deutsche Elf Argentinien an die Wand. Technisch waren die Deutschen ohnehin besser und schließlich entschied Andi Brehmes Hamburger Coolness das Spiel. Gesellschaftlich gesehen wurde der Titel recht euphorisch gefeiert – mit einem vielleicht ähnlichen Trigger wie 1954. Analog zum ersten Nachkriegstitel war das der erste Titel, den man gefühlt bereits wiedervereinigt gewonnen hatte. Vor allem viele Noch-DDR-Bürger fühlten sich zum ersten Mal als Teil eines gemeinsamen Größeren. Passend zur Einführung der D-Mark in der DDR am 1. Juli, führte der Titelgewinn zu einem endlosen Strom an Ostberliner Feiernden in den Westteil der Stadt. Linke Stimmen warnten vor zu viel Nationalismus. Das war den Meisten – denen es mutmaßlich nur um Fußball ging – herzlich egal. Die Folgen der Agitation westdeutscher Rechtsradikaler in den östlichen Bundesländern waren damals noch nicht absehbar.

2006: das Sommermärchen

War 1990 alles noch so ein bisschen chauvinistisch und schmuddelig gewesen – nix multikulti, viele Schnauzbärte und stonewashed Jeans –, war das so genannte Sommermärchen von 2006 dann definitiv der Beginn der dynamischen, diversifizierten, jungen Marke deutscher Fußball. Deutschland war Gastgeber und war plötzlich – zumindest in der Außenwirkung und in Westdeutschland – ein sehr okayes Land, das man auch in Frankreich, England oder Holland mal gut finden konnte. Die so genannten „Baseballschläger-Jahre“, benannt nach der rechten Gewalt während der ostdeutschen Nachwendezeit, schien erstmal vorbei und aufgearbeitet worden zu sein, die ersten PoC-Nationalspieler (der Flügelflitzer David Odonkor – siehe auch: entscheidende Vorlage zum 1 : 0 gegen Polen) traten in Erscheinung. Deutschland war zu dieser Zeit nicht nur wirtschaftlich erfolgreich (die Finanzkrise war noch nicht zu erahnen), sondern in Gestalt der Nationalmannschaft endlich auch hübsch (Oliver Bierhoff) und fluffig (Poldi, Schweini = lackierte Fingernägel). Wichtig bei alldem war, wie Deutschland als Gesellschaft die 31 Nationen in seinen Straßencafés und Burger Kings aufnahm: wie echte Freunde. Eröffnung war in München mit bayerischer Folklore – international auch damals wohl immer noch ein Synonym für Deutschland allgemein. Das Wetter war mediterran, darum sprach man später auch immer – analog zum Titel des Dokumentarfilms von Sönke Wortmann – über das „Sommermärchen“. Heutzutage kommen ja immer weitere Eigenschaften dazu („das gekaufte Sommermärchen“, „das Sommermärchen – eine Lüge?“ und so weiter) – damals konnte das ja schließlich noch niemand wissen.

So stellt sich der liebe Gott die Welt vor.

hat der (mauschelnde?) Organisator Beckenbauer wohl gesagt, als er in diesen Tagen im Helikopter übers Land flog. Gleichzeitig lebte er das Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ glaubwürdig vor. Trotzdem gab es auch Warnungen vor No-go-Areas in Ostdeutschland, wo sich „national befreite Zonen“ bereits etabliert hatten. Sportlich standen mit Jürgen „Klinsi“ Klinsmann als Trainer die Zeichen auf Experiment und Veränderung: Viele junge Talente – darunter mehrere spätere Weltmeister – erhielten ihre erste Chance. Mit Oliver Bierhoff wurde der Posten des Teammanagers geschaffen – ein Novum, das sich auch marketingmäßig positiv auswirkte. Klinsmann drehte viele Steine um: Aufgrund seiner Erfahrungen in den USA stellte er einen Psychologen für die Spieler ein, Sepp Maier wurde als Torwarttrainer entfernt, der Torwart selbst (Kahn) wurde seiner titanenhaften Kapitänsbinde beraubt. Auch das Fußballspielen selbst sollte nun ein neues Gesicht in die Hand nehmen: Jogi Löw – später noch erfolgreicher (siehe 2014 „die Gereiften“). Er ließ einen schnellen und offensiven Fußball spielen – passend zur Sommermärchen-Stimmung mit teilweise recht unbedenklicher Absicherung nach hinten.

Dass Klinsi zwischen Kalifornien und Deutschland hin- und herpendelte, brachte ihm im Vorfeld der WM noch Prügel ein: Nach einem 1 : 4 in Florenz gegen Italien forderten Bundestagsabgeordnete aller Parteien Klinsmann auf, „… dem Sportausschuss zu erklären, wie er Weltmeister werden will“ (dfb.de). Die Partystimmung wurde während der ungefährdeten Gruppenhase mit drei Siegen immer besser. Die Souveränität der Gastgeberrolle strahlte auf die Mannschaft ab. Sogar Kahn wurde Teamplayer und steckte Jens Lehmann im dramatischen Elfmeterschießen gegen Argentinien jenen legendären Zettel zu, der später eine Million Euro für „Ein Herz für Kinder“ (hach, gutes Land …) einbringen sollte. Die ach so umgekrempelte und junge Mannschaft setzte sich dann auf dramatische Weise durch und kam bis ins Halbfinale. Auch das passte wiederum zum Sommermärchen, weil’s einfach lief. Bei der anschließenden Rudelbildung zog der blutjunge Schweinsteiger dann Oliver Bierhoff aus dem Pulk und zeigte so bereits erste Anzeichen der Leader-Persönlichkeit, zu der er später heranreifen sollte. Als dann im Halbfinale gegen Italien Schluss war, war die Stimmung trotzdem gut: „Stuttgart ist viel schöner als Berlin“, skandierten die Fans im Stadion beim Spiel um den dritten Platz. Der DFB sieht es ähnlich euphorisch: „Am schönsten aber ist die Feststellung, dass die Welt wohl nie ein besseres Bild von Deutschland gehabt hat als in jenem wunderbaren Sommer 2006.“ (dfb.de) Wenn man es heutzutage doch schaffen würde, diese Art von Begeisterung all den Staatsmüden im Lande einzuimpfen. Ist ja bald EM …

2014: die Gereiften

2014 wäre ohne 2010 nicht denkbar. Denn zwischen diesen beiden WMs reifte die Nationalmannschaft entscheidend. Sie wurde sozusagen vom Jungen zum Manne (oder – da sie ja dem Geschlecht nach weiblich ist – vom Mädchen zur Frau?). Der Stinkstiefel und vermutlich schon als echter Mann geborene Ballack war 2010 verletzt – sein Berater Michael Becker nannte die Nationalmannschaft parallel eine „Schwulencombo“ – und kam bis zum Turnierende nicht mehr zurück. Klose, Schweinsteiger und Co wurden durch extrem talentierte junge Spieler wie die U21-Europameister Hummels, Özil, Khedira, Neuer, Höwedes und Boateng ergänzt. Es gab wunderbaren Fußball vom deutschen Team zu sehen – wer die Vuvuzelas aushält, dem empfehle ich dringend, mal wieder Deutschland—England oder Deutschland—Argentinien anzuschauen. Die Mannschaft war im Schnitt knapp unter 25 und noch nicht ganz so weit. Der Corriere de la Serra schrieb immerhin:

Das neue Deutschland schickt die Fantasie an die Macht.

Die Ernte gab’s dann 2014. Neun von zehn Quali-Spielen wurden gewonnen, und auch das legendäre 4 : 4 gegen Schweden (4 : 0-Führung vergeigt) konnte dem Selbstbewusstsein von Mannschaft und breiter Öffentlichkeit keinen Abbruch tun. Man spürte, dass dieses Mal viele der Spieler das Gefühl hatten, dass die Zeit nun reif sei. Neuer, Lahm, Schweinsteiger und Khedira waren zwar alle verletzt aus der Saison herausgegangen, signalisierten aber alle: Ohne mich wird das in Brasilien nichts. Siegermentalität fängt im Rehazentrum an, könnte man sagen. Dazu kamen die innere Ruhe und die Siegesgewissheit des Umfeldes – ein selbstbewusster Oliver Bierhoff, der die Wahl der Unterkunft im Campo Bahia schon als ersten Sieg verbuchte.

Der versunken am Strand entlangspazierende Jogi Löw, bei dem man sicher war, dass er gerade jetzt, wo er die Schaumkrönchen der Wellen am Horizont fixiert, die ideale Aufstellung für den nächsten Gegner ausheckt. Die Gesellschaft 2014? Erarbeitete ein kleines Wirtschaftswachstum trotz vieler Krisen überall. Auch schon Siegermäßig irgendwie. Gleich zum Auftakt (4 : 0 gegen Portugal) setzte das Team das erste Ausrufezeichen. Und als später in der Vorrunde gegen Ghana eine Niederlage drohte, werden die zwei bis dahin geschonten Stützen Schweinsteiger und Klose eingewechselt – und erarbeiteten gemeinsam noch das 2 : 2. Das Achtelfinale gegen Algerien gewinnen sie nur knapp – im Viertelfinale wartet dann Frankeich. Da steht man stabil, nach vorne geht wenig – bis Hummels mit einem Kopfballtor den 1 : 0-Sieg klarmacht. Spätestens jetzt spürte man, was der Unterschied zu 2010 war: Weniger jugendliche Euphorie war angesagt, auch knapp und nicht so elegant gewinnen war in Ordnung. Aber gewinnen halt. Per Mertesacker brachte die 2014er-Kultur im legendären Eistonnen-Interview nach dem Algerienspiel auf den Punkt: „Was wolln se? Wolln se ’ne erfolgreiche WM oder wolln se wieder ausscheiden und haben schön gespielt?“ Nach dem schweren Frankreich-Spiel kam dann das noch legendärere 7 : 1 gegen Brasilien – das postwendend als Synonym für „absolutes Fiasko“ in den Sprachschatz des Gastgeberlandes einging. Unvergessen die Bilder der weinenden Fans, des kleinen Jungen mit der Brille, der sich entsetzt die Augen rieb.

Okay, Neymar fiel aus, aber die Mannschaftsleistung war trotzdem sehr geschlossen. Man spürte von Anfang an, dass hier ein Team aufläuft, das sich jetzt nicht gerade in die Hosen macht ob der brasilianischen Gegner nebst vollem Riesenstadion. Sehr positiv blieb hinterher hängen, dass die deutsche Mannschaft sympathisch gewann und die Verlierer direkt anschließend auf dem Feld umsorgte und tröstete. Wobei – man hätte ja auch früher schon mal aufhören können, Tore zu schießen. Wie widerstandsfähig diese Mannschaft ist, zeigte dann das Finale. Steven Gerrard sagte treffend: „Argentinien hat Messi, Brasilien hat Neymar, aber Deutschland hat eine Mannschaft.“ Symbolisch stand dafür sicher der blutende Schweinsteiger, nachdem er 120 Minuten lang von argentinischen Spielern malträtiert worden war.

Und natürlich Manuel Neuer, vor dem gegnerische Spieler ganz alleine einfach so auftauchen konnten, ohne dass man gleich Schnappatmung bekam. Das Ende der Geschichte kennen alle: Deutschland wurde verdient Weltmeister – und war jetzt plötzlich nicht nur eine sympathische, aufregende Marke, sondern auch eine ganz sicher erfolgreiche.

Ab 2014: die langweiligen Verwalter

Nach 2014 ist irgendwie alles anders. So wie einige das Gefühl haben, dass auch das Land immer weniger Biss hat, so hat man doch zumindest bei der Nationalmannschaft das Gefühl, dass da was nicht stimmte. Zweimal Vorrunden-Aus der deutschen Nationalmannschaft: 2018 in Russland und 2022 in Katar. Nach dem Debakel von 2018 übernahm Hansi Flick, unter dem die Mannschaft in Katar erneut in der Vorrunde ausschied. Verteidiger Antonio Rüdiger sah es so: „Die letzte Gier, dieses etwas Dreckige — das fehlt uns“, kommentierte er den Spirit der Mannschaft damals. „Viel Talent, alles schön und gut. Aber da gehört mehr dazu als einfach nur Talent, da spielen auch andere Faktoren eine Rolle. Da müssen wir uns verbessern, ansonsten kommen wir nicht weiter.“ Bastian Schweinsteiger sprach davon, dass die Mannschaft nicht gebrannt habe (kicker.de). Dieses Nichtbrennen hält im Prinzip bis heute an, denn auch Flicks Nachfolger Julian Nagelsmann hat den Einstellungshebel bislang noch nicht entscheidend umlegen können.

Nach der 0 : 2-Pleite gegen Österreich im Herbst 2023 ließ sich der eigentlich recht besonnene Sportdirektor Rudi Völler zum leicht stammtischverdächtigen (das sah er selbst auch so), aber immer wieder mal bemühten Klassiker „uns fehlen deutsche Tugenden“ hinreißen. Gemeint ist damit „cleverer und leidenschaftlicher“. Im Sommer haben wir dann EM bei uns im Land. Bis dahin kann die Marke Nationalmannschaft noch einiges tun – hoffen wir, dass das Selbstbewusstsein bald wiederkommt. Sonst müssen wir in Zukunft einfach mehr Basketball und Dart schauen.

Autor
Markus Koch
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